Freitag, 30. April 2021

Zum ökologischen Potenzial der Pflanzenkohle - Reduktion der CO2-Emissionen

"[...] Die ökologische und ökonomische Bilanz von Pflanzenkohle hängt von der Art der eingesetzten Biomasse und von der Verwendung ab, ebenso wie von wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen. Da die Produktion nachwachsender Rohstoffe teuer sein kann, werden vor allem Reststoffe verwendet, die einen sehr geringen Wert besitzen oder deren Entsorgung andernfalls Schwierigkeiten oder Kosten verursachen würde.[14]

Pflanzenkohle als Bodenverbesserer

Pflanzenkohle trägt bereits seit über 2500 Jahren in zahlreichen Regionen der Welt zur Bodenverbesserung bei.[18] Meist wurde die Pflanzenkohle dabei in Kombination mit anderen organischen Reststoffen wie Viehmist, Kompost oder Bokashi, das sind kommerzielle Mischungen aus verschiedenen, universell vorkommenden aeroben und anaeroben Mikroorganismen aus der Lebensmittelindustrie, in den Boden eingebracht. Die Pflanzenkohle diente dabei vor allem als Trägermittel für Nährstoffe sowie als Mikrohabitat für Bodenmikroorganismen wie Bakterien und Pilze. Das bekannteste Beispiel für den Einsatz von Pflanzenkohle zur nachhaltigen Verbesserung verwitterter Böden ist Terra preta.

Durch den Eintrag von aktivierter Pflanzenkohle in landwirtschaftlich genutzte Böden lassen sich Auswirkungen auf die Bodenaktivität, Bodengesundheit und Ertragskapazität erzielen. In wissenschaftlichen Untersuchungen konnten unter anderem folgende Vorteile für die Bodenkulturen nachgewiesen werden:

  • Verbesserung des Wasserspeichervermögens der Böden[19][20][21]
  • Zuwachs der Bodenbakterien, die in den Nischen der hochporösen Kohle einen geschützten Lebensraum finden, wodurch die Nährstoffumsetzung für die Pflanzen gefördert wird.[22][23]
  • Zunahme der Mykorrhizen, wodurch eine verbesserte Wasser- und Mineralstoffaufnahme sowie wirksamer Schutz gegen Pflanzenschädlinge gewährleistet wird.[23][24]
  • Adsorption toxischer Bodenstoffe wie organische Schadstoffe und Schwermetalle, wodurch die Lebensmittelqualität und der Grundwasserschutz verbessert werden.[25][26]
  • Höhere Bodendurchlüftung sowie bessere Aktivität von N-Bakterien und somit deutliche Reduktion der klimaschädlichen Methan- und Lachgas-Emissionen.[1][27][28][29]
  • Effizientere Nährstoffdynamik, die sowohl für erhöhtes Pflanzenwachstum als auch für verminderte Nährstoffauswaschung sorgt[30][29]
  • Verbesserung der Pflanzengesundheit durch induzierte Resistenz[31]

Das deutsche Umweltbundesamt (UBA) und die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) warnen angesichts der Vielzahl der Ausgangsstoffe, Herstellungsverfahren und Anwendungsbereiche vor potenziellen Risiken bezüglich der Bildung organischer Schadstoffe bei der Biokohleherstellung sowie der Wirkungen auf Böden und Kulturpflanzen.[14][32] Das deutsche UBA empfahl im Jahr 2016 weitere systematische Untersuchungen sowie die Etablierung eines Zertifizierungs­systems.[32]

Kohlenstoffsenke

Pflanzenkohle besteht zum überwiegenden Anteil aus reinem Kohlenstoff, der von Mikroorganismen nur sehr langsam abgebaut werden kann. Wird diese Pflanzenkohle in landwirtschaftliche Böden eingearbeitet, bleibt ein Anteil von über 80 % des Kohlenstoffes für mehr als 1000 Jahre stabil[1][33][34] und stellt somit eine Möglichkeit dar, das ursprünglich von Pflanzen assimilierte CO2 langfristig der Atmosphäre zu entziehen und dadurch den Klimawandel abzubremsen.

Im Rahmen der pyrogenen CO2-Abscheidung und -Speicherung könnten entsprechende Verfahren beim Kampf gegen die globale Erwärmung verwendet werden.[35]

Biologische Reststoffe wie Grünschnitt, Trester oder Mist werden derzeit entweder der Kompostierung, Fermentierung oder Verrottung zugeführt. Beim Kompostieren und Verrotten entweichen ca. 60 % des in der Biomasse enthaltenen Kohlenstoffs als CO2 und Methan. Bei der dezentral einsetzbaren Pyrolyse entstehen aus der ursprünglichen Biomasse ca. 30 % Pflanzenkohle. Da zudem die Energie des Synthesegases zur Elektrizitätsgewinnung eingesetzt werden kann und somit fossile Brennstoffe ersetzt, ist die Klimabilanz bei der Pyrolyse von biologischen Reststoffen im Vergleich zu deren bloßer Verrottung klimapositiv. Die Pyrolyse kann zudem in der Reststoffverwertung eingesetzt werden. So lassen sich Reststoffe aus Biogasanlagen, Pressreste aus der Sonnenblumen-, Raps- oder Olivenöl-Herstellung und Gärreste aus der Bioethanolherstellung verwenden.

Mittels einer Pyreg-Pyrolyse-Anlage lassen sich beispielsweise aus je zwei Tonnen Grünschnitt rund eine Tonne CO2 langfristig der Atmosphäre entziehen.[36] Alle Energieaufwendungen wie für den Transport des Grüngutes, dessen Zerkleinerung, den Betrieb der Anlage sowie das Einbringen der Pflanzenkohle in den Boden sind dabei bereits berücksichtigt. Die verwendete Pyrolyse-Anlage ist energieautark und wird im kontinuierlichen Prozess betrieben. Die Energie, die zur Aufheizung der Biomasse auf über 400 Grad Celsius benötigt wird, stammt aus der Biomasse selbst und wird durch die Verbrennung des bei der Pyrolyse entstehenden Gases erzeugt.[37] Manche Anlagen nutzen zur Karbonisierung der Biomasse die Abwärme anderer Systeme. Solche Systeme sind z. B. Biogasanlagen. Zur Karbonisierung der Biomasse werden hier die heißen Abgase der Verbrennungsmotoren genutzt. Das gesamte durch die Pyrolyse entstehende Gas wird den Verbrennungsmotoren zur klimapositiven Stromerzeugung zugeführt, da es nicht mehr zur Karbonisierung der Biomasse benötigt wird. Die Pyrolyse-Anlage kann sowohl kontinuierlich als auch diskontinuierlich betrieben werden, da durch die Abwärmenutzung die Anlage immer auf Betriebstemperatur gehalten wird und so Aufheizphasen entfallen.

Pflanzenkohle eingebracht ins Erdreich kann dort Jahrtausende überdauern.[2][38][39][40][41]

Modellrechnungen zufolge ist es bei nachhaltiger Pflanzenkohleerzeugung theoretisch möglich, CO2-, Methan (CH4)- und Distickstoffmonoxid (N2O)-Emissionen von bis zu 6,6 Pg[42] CO2-Äquivalent (CO2e) zu kompensieren, das entspricht 12 % der jährlichen, anthropogenen Treibhausemissionen. Im Verlauf eines Jahrhunderts könnte eine Menge Pflanzenkohle hergestellt werden, die Gesamtemissionen in Höhe von 480 Pg CO2e entspricht, ohne dabei ErnährungssicherheitBiodiversität und die Stabilität von Ökosystemen zu gefährden.[43] Nur ein Teil dieser potentiellen Pflanzenkohleerzeugung ist wirtschaftlich möglich. Schätzungen für Deutschland ergaben, dass – wenn die Emission einer Tonne CO2 im Jahr 2050 etwa 75 Euro kostet – circa ein Drittel des in Deutschland vorhandenen Potentials wirtschaftlich produziert werden könnte.[44]

Hinsichtlich der Frage, ob Böden nach der Einbringung von Pflanzenkohle eine größere oder aber eine kleinere Menge der Treibhausgase Kohlendioxid, Methan und Lachgas abgeben als zuvor, zeigen die Ergebnisse von Studien ein uneinheitliches Bild.[45]

Denkbare Verwendung in Kohlenstoff-Brennstoffzellen

In Kohlekraftwerken wird Kohlenstoff (bisher aus fossiler Kohle) verbrannt, aus der Wärme kann mit einer Wärmekraftmaschine elektrische Energie erhalten werden. Es ist aber auch möglich, die chemische Energie von Kohlenstoff in einer Brennstoffzelle, in diesem Fall eine Kohlenstoff-Brennstoffzelle, direkt in elektrische Energie zu wandeln, woraus sich theoretisch ein höherer Wirkungsgrad ergibt. Die Verwendung von Pflanzenkohle als regenerative Energiequelle für diese denkbare Anwendung wird intensiv erforscht, wie eine Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2018 zeigt.[46]

Weitere Anwendungen

Pflanzenkohle ist aufgrund ihrer Adsorptionskapazität dazu geeignet, in der Wasseraufbereitung eingesetzt zu werden, insbesondere zur Entfernung von Schwermetallen.[47] In der Europäischen Union und der Schweiz ist Pflanzenkohle unter der Nummer E 153 als Lebensmittelzusatzstoff (Farbstoff) zugelassen.

In Kalifornien wird Holz mittels thermochemischer Vergasung zu Biokohle verarbeitet, die der Bodenverbesserung oder als Filtermaterial dient. Dabei wird elektrische Energie gewonnen, aber zur Gewinnung der Biokohle auf die maximal mögliche Energieausbeute des Brennstoffs verzichtet. Als Ausgangsmaterial dient Holz, das für Brandschneisen geschlagen wird. In Kalifornien wäre solches Holz früher an Ort und Stelle verbrannt worden.[48]" (Wikipedia)


Industrial biochar systems for atmospheric carbon removal: a review

Donnerstag, 29. April 2021

Klimaschutzgesetz ist in Teilen verfassungswidrig

 Bundesverfassungsgericht: Klimaschutzgesetz ist in Teilen verfassungswidrig, neues-deutschland.de 29.4.21: 

"Die Kläger würden durch die Bestimmungen in ihren Freiheitsrechten verletzt, erklärte das Gericht. Die Vorschriften verschöben hohe Lasten für die Minderung der Emissionen unumkehrbar auf die Zeit nach 2030. Um die im Pariser Klimaabkommen festgelegte Begrenzung des Temperaturanstiegs zu erreichen, müssten die dann noch notwendigen Minderungen immer dringender und kurzfristiger erbracht werden."


Berns Ulrich: Die Befreiung der Freiheit ZEIT 30.4.21

Donnerstag, 22. April 2021

Was gegen Wohnpreis-Explosionen hilft

Wohnungsmarkt:Trau dich, Staat!  Von Uwe Jean Heuser ZEIT 22.4.21

Das Ausland zeigt, was gegen Wohnpreis-Explosionen hilft.

"[...] Einen enormen Preisschub bescheren deutschen Städten ausländische Investoren von Amerika bis China. Zeitweise kam die Hälfte der Großinvestitionen aus dem Ausland. In Berlin zeugen viele Kaufanzeigen auf Englisch ebenso vom internationalen Interesse wie Batterien von chinesischen Klingelschildern und Quartiere, in deren Wohnungen so gut wie nie das Licht brennt. Kein Wunder, der Euro ist relativ billig, der Zins gering, der Quadratmeterpreis in den deutschen Metropolen oft immer noch viel niedriger als in London oder San Francisco.
Solchen oft spekulativen, von Finanz- und Währungsmärkten getriebenen Investitionen werfen sich andere Staaten entgegen. Die Schweiz verbietet es Ausländern, eine Wohnung oder ein Haus zu kaufen, wenn sie dort nicht dauerhaft leben – Ausnahmen sind Kontingente von Ferienwohnungen. In Österreich müssen solche Käufe unter teils strengen Auflagen genehmigt werden. 
 Dänemark macht es Ausländern sehr schwer, ein Ferienhaus an der Küste zu erwerben. In Australien dürfen diese nur noch Neubauten kaufen, in Neuseeland gar keine Wohnbauten mehr. Wem das zu weit geht, der kann auch in die kanadische Boomstadt Vancouver schauen, die kaufende Ausländer erheblich besteuert."

Mittwoch, 21. April 2021

Serendipität - Serendipity-Prinzip

 Der Begriff Serendipität (englisch serendipity), gelegentlich auch Serendipity-Prinzip oder Serendipitätsprinzip, bezeichnet eine zufällige Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, das sich als neue und überraschende Entdeckung erweist.[1] Verwandt, aber nicht identisch ist die weiter gefasste Redewendung vom glücklichen Zufall. Serendipität betont eine darüber hinausgehende Untersuchungstätigkeit, eine intelligente Schlussfolgerung oder Findigkeit. [...]

Bekannte Beispiele für Serendipität sind die Entdeckung Amerikas 1492, die Entdeckungen der Röntgenstrahlung, des Penicillins und Viagras, des Sekundenklebers oder der kosmischen Hintergrundstrahlung. Aber auch geradezu überzufällige Begebenheiten sind beschrieben, die fleißige Forscher zu Entdeckungen führen, bis hin zum Benzolring, der schließlich in einem Traum vorkam. Andere Beispiele sind der Klettverschluss, das Post-it, das Teflon, das Linoleum, das Silikon, die „Erfindung“ des Teebeutels, der Nylonstrümpfe oder auch die Entdeckung des LSD. In diesem Zusammenhang fällt oft der Satz „Der Zufall begünstigt nur einen vorbereiteten Geist“; soll heißen: Die Entdeckung kommt, wenn jemand viel daran gearbeitet hat, aber oft ungezwungen, sie fällt ihm dann zu.

https://de.wikipedia.org/wiki/Serendipit%C3%A4t#Bekannte_und_bedeutende_Beispiele

Montag, 19. April 2021

Gefängnis-industrieller-Komplex in den USA (Gefängnis, Wirtschaf, Profit)

 "Der Begriff "Gefängnis-industrieller-Komplex", abgeleitet vom Begriff "Militärisch-industrieller-Komplex" der 1950er Jahre, beschreibt die Tatsache, dass die rasche Zunahme der Zahl der US-Gefängnisinsassen auf den politischen Einfluss privater Gefängnisunternehmen und Unternehmen zurückzuführen ist, die Waren und Dienstleistungen mit Gewinn an staatliche Gefängnisbehörden liefern. Die häufigsten Akteure des Gefängnis-industriellen-Komplexes sind Unternehmen, die billige Gefängnisarbeitskräfte einstellen, Bauunternehmen, Anbieter von Überwachungstechnologien, Unternehmen, die Gefängnisnahrungsmittel und medizinische Einrichtungen vertreiben, Gewerkschaften von Justizvollzugsbeamten, private Bewährungshelferfirmen, Anwälte, und Lobbygruppen, die in den Parlamenten für die Interessen dieser Gruppen arbeiten.

Der Aufbau und die Erweiterung von Gefängnissen als Mittel zur Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten und die Nutzung von Arbeitskräften von Insassen sind besonders schädliche Elemente des Gefängnis-Industriekomplexes, da sie den Unternehmen klare wirtschaftliche Vorteile auf Kosten der Inhaftierten verschaffen."


Dieser Text ist die von mir leicht verbesserte Maschinenübersetzung des Anfangs des folgenden Artikels der englischen Wikipedia:

https://en.wikipedia.org/wiki/Prison%E2%80%93industrial_complex


In der deutschen Wikipedia findet sich ein entsprechender Artikel noch nicht, aber in wissenschaftlicher deutscher Literatur ist das Phänomen bekannt, dazu z.B.:


"Derzeit sind in den USA mehr schwarze Männer im Gefängnis als bei Ausbruch des Bürgerkriegs versklavt waren, und sie verrichten in den häufig privat betriebenen Haftanstalten Zwangsarbeit für bekannte Unternehmen. [...]  Eine konsequente antirassistische Perspektive muss deshalb [...] auf die Abschaffung aller Einrichtungen zielen, die es ermöglichen, schwarzen Menschen Gewalt, Willkür und verfrühtem Sterben auszusetzen. Mit der Abolition der Sklaverei wurde diese Aufgabe begonnen, aber sie ist nicht beendet, solange Menschen aufgrund von Problemen, die zum allergrößten Teil sozialer Natur sind, individuell eingesperrt werden." (Eva von Redecker: Revolution für das Leben, S. 162/63)

Freitag, 16. April 2021

Dialekte bei Tieren

Tierisches Geschwätz Von Urs Willmann ZEIT 18.2.21

Nicht allein der Mensch redet Dialekt. Auch Ziegen, Nacktmulle und sogar Bakterien passen sich sprachlich ihrer Umgebung an. 

"[...] Für die Mainzer Mikrobiologen Nazzareno Dominelli und Ralf Heermann, Autoren eines Fachartikels in Biologie in unserer Zeit, handelt es sich bei diesen Kommunikationsformen um nichts anderes als "unterschiedliche Sprachen und Dialekte". Den Einzellern gelinge sogar, was kaum ein Homo sapiens schafft: Sie kommunizieren "mit mehreren Dialekten parallel".

Da bakterielle Infektionen fast immer von der geglückten Kommunikation mit dem Wirt abhängen, haben die beiden Forscher einen kühnen Plan: Wer den Small Talk eines gefährlichen Bazillus versteht, besitzt vielleicht den Schlüssel, die Kommunikation kräftig zu stören. Sprich: die Infektion zu verhindern. Fundierte Sprachkenntnisse könnten so in Zukunft die Menschheit vor Seuchen retten. Zumindest dann, wenn sie von Bakterien übertragen werden – und wir ihren Dialekt verstehen."

Erinnerungskultur

Enttabuisiert den Vergleich! ZEIT 31.3.21
Die Geschichtsschreibung globalisieren, das Gedenken pluralisieren: Warum sich die deutsche Erinnerungslandschaft verändern muss. (Von  und )
"[...] Wir verneinen keineswegs die singulären Elemente des Holocausts, allerdings glauben wir nicht, dass sie vergleichende Ansätze zur Geschichte und Erinnerung des Holocausts allgemein verhindern. Im Gegenteil: Vergleichende Perspektiven, die Ähnlichkeiten und Unterschiede herausarbeiten, bieten die besten Voraussetzungen dafür, zu verstehen, was am Holocaust singulär war. Und sie bieten somit die besten Chancen zur Prävention von Genoziden. [...]" 
 Thomas Schmid: Der Holocaust war kein Kolonialverbrechen Aktivismus und Wissenschaft gehören nicht zusammen. Eine Erwiderung auf Michael Rothberg und Jürgen Zimmerer, ZEIT Nr.15 8.4.21
"[...] Denn nur wer vergleicht, kann Unterschiede erkennen, Gemeinsamkeiten wahrnehmen. Kann sehen, dass beide, Holocaust und Gulag, Massenmorde waren. Aber auch den grundlegenden Unterschied erkennen: In den Gulag wurden Menschen deportiert, weil sie Kulaken oder Händler oder Intellektuelle oder "Konterrevolutionäre" waren. Obwohl ihr Tod in Kauf genommen wurde, war der Zweck des Unternehmens nicht ihre Vernichtung. Im Holocaust dagegen wurden Juden allein deswegen ermordet, weil sie Juden waren. Dieser Wille der Deutschen, ein ganzes Volk auszulöschen, ist einmalig in der Geschichte. So blutig und mörderisch der Kolonialismus auch war – Ziel war nicht die Vernichtung um der Vernichtung willen. Deswegen ist der Holocaust singulär. Er war ein antisemitischer Genozid.
Wie kommen die beiden Autoren auf die abwegige Idee, wer dieser Meinung sei, betreibe damit absichtlich das Herunterspielen, Verharmlosen und Verleugnen der kolonialistischen Verbrechen? Ihre These lautet, dass es "diskursive Kontinuitäten und Funktionsäquivalenzen" zwischen Holocaust und Kolonialismus gibt. Holt man die wolkige Formulierung auf den Boden zurück, dann ist damit nichts anderes als dies gemeint: Nicht der Holocaust ist der große Zivilisationsbruch, sondern der ihm vorausgehende und ihn einschließende Kolonialismus. Der Holocaust wäre dann nur ein Spezialfall des Kolonialismus, ginge gewissermaßen in diesem auf. Gegen diese Sichtweise spricht die Tatsache, dass Hitler zwar den Osten unterwerfen, aber nie ein Kolonialreich errichten wollte. Und die Juden nicht unterwerfen und ausbeuten, sondern vernichten wollte. [...]"
Schmid verzichtet dabei darauf, auf Hannah Arendt einzugehen, die die Wurzel des nationalsozialistischen Totalitarismus im kolonialistischen Rassismus sieht, ob aus Unkenntnis oder weil ihre Analyse nicht zu seiner Argumentation passt, vermag ich nicht zu beurteilen. 
"Der kontinentale Imperialismus findet seinen Ausdruck im völkischen Nationalismus der „verspäteten Nation“. Besonders die Nationen in Ost- und Mitteleuropa konnten noch auf keine nationale Geschichte zurückblicken. Hier finden nach Arendt diejenigen politischen Kräfte ihre Anliegen wieder, denen es nicht gelang, sich bisher national zu emanzipieren. Sie erläutert in diesem Zusammenhang, wie der demokratische Volksbegriff der Aufklärung seitens der völkischen Bewegung abgelehnt und romantisch aufgeladen wird und zeigt auf, wie dieser völkische Nationalismus den Antisemitismus biologistisch, rassistisch werden lässt, den Rassismus antisemitisch und in einem Antisemitismus der Vernichtung mündet. Aus dem Völkischen Nationalismus konnte sich die Ideologie der „Volksgemeinschaft“ entwickeln." (Arendt und Geschichte des völkischen Nationalismus)

Joachim Gauck: Menschenrechte

Joachim Gauck: "Menschen, die die Freiheit, Demokratie und Menschenrechte lieben, fragen nicht danach, ob jemand schwarz ist oder weiß" ZEIT 31.3.21

Der Kampf gegen Rassismus ist eine demokratische Pflicht. Aber nicht Herkunft oder Identität entscheiden dabei, sondern Haltung – und die ist unabhängig von der Hautfarbe.

Weißsein privilegiert also. Ganz automatisch – per Schicksal. Ein Zeitgeist, aus angloamerikanischen Gefilden stammend, will es so. Über die Entstehung und das Anwachsen dieses von Amerika ausgehenden Narrativs ist viel geschrieben und gestritten worden. Inzwischen hat sich die Kritik an dem dominanten weißen Blick sogar bis in die vorkoloniale Zeit ausgedehnt, das Bild der Antike soll revidiert werden. Zuvor schon standen die Philosophen der Aufklärung auf dem Prüfstand. Ich bin Bürger eines Landes, in dessen Geschichte Nationalismus, Rassismus und auch Kolonialismus tiefe Spuren hinterlassen haben. Trotzdem lässt das pauschale Urteil, Weißsein privilegiere, bei mir Zweifel an seiner historischen Berechtigung aufkommen und ruft spontan einen aus tieferen Schichten stammenden emotionalen Protest hervor. 
Beginnen wir mit der Sprache. Spielt sie doch eine nicht unwesentliche Rolle bei den augenblicklichen Diskussionen um weiße Dominanz. Im allgemeinen Sprachgebrauch meinen Privilegien Vorrechte – wie etwa die eigene Gerichtsbarkeit und das eigene Erbrecht, und zwar für den Adel im Feudalstaat. Privilegien sind danach Sonderrechte für eine Minderheit; sobald Rechte wie etwa das Wahlrecht allen zuerkannt werden, werden sie vom Privileg zum Allgemeingut, zur Norm. Nach diesem Verständnis verfügen Weiße in unserer Demokratie über keinerlei Sonderrechte, die ihnen der Gerechtigkeit halber entzogen werden sollten. Vielmehr geht es darum, die faktischen Ungleichheiten aufzuheben, die Nichtweiße trifft, obwohl sie, von der Verfassung gestützt, dieselben Rechte haben. [...]

Caroline Fourest: "Generation Beleidigt"

Fourest: "Heute treibt mich eine große Angst um"  (Interview) ZEIT 31.3.21

Die französische Feministin Caroline Fourest kritisiert in ihrem Buch "Generation Beleidigt" die radikalisierten Studenten in den westlichen Ländern. Sie sieht ihren eigenen Kampf für die Frauen und gegen den Rechtsextremismus gefährdet [...]


ZEIT: Ist die Jugend nicht einfach nur viel wachsamer als ältere Generationen?#

 Fourest: Im Gegenteil. Sie lebt in einer privilegierten, elitären Blase, losgelöst von den wahren politischen Kräfteverhältnissen auf dieser Welt. Sie ereifert sich über Lehrerinnen und Professoren, die ihr widersprechen. Aber es interessiert sie nicht, wenn der Staat in Ungarn, Polen oder Russland wieder gegen Homosexuelle vorgeht. Sie begreift nicht, dass wir in einer Zeit leben, in der das Identitäre der Rechtsextremisten auf dem Vormarsch ist, immer stärker wird und sie selbst diesen Trend verschärft.

 ZEIT: Passiert das momentan überall auf der Welt? 

 Fourest: Es betrifft unsere privilegierten Jugendlichen in den USA und Europa. Die Jugend in Algerien, die gegen einen autoritären Staat kämpft, oder die aufständische Jugend im Senegal, die es mit riesigen Problemen zu tun hat, kümmert sich nicht um Mikroaggressionen.

 ZEIT: Zweifeln Sie am Engagement einer ganzen Generation?

 Fourest: Natürlich engagiert sich die Jugend für ein Mainstream-Thema wie die Rettung der Natur. Aber dieses Anliegen ist auch unangreifbar: Wenige sind gegen die Rettung der Natur. Viele Jugendliche wählen dieses Anliegen nicht zuletzt aufgrund ihrer Sozialisation mit den sozialen Medien. Sie sind mit der Angst aufgewachsen, in den sozialen Medien bloßgestellt zu werden und das eigene Ansehen zu verlieren. [...]

Donnerstag, 15. April 2021

Die Klimakrise ist lösbar. Das verhindern die "Tatenlosen".

Michael E. Mann: "Propagandaschlacht ums Klima: Wie wir die Anstifter klimapolitischer Untätigkeit besiegen"

Mann: "Die Gegner in diesem neuen Klimakrieg können den Klimawandel nicht mehr einfach so leugnen, weil seine Auswirkungen – Hitzewellen, Düren, Buschbrände, Überschwemmungen – überall auf der Welt sichtbar sind. Deshalb versuchen Sie, uns mit einer Vielzahl hinterlistiger Taktiken zu verwirren und abzulenken. [...] Ich nenne sie Tatenlose, weil sie die Klimakrise klein reden oder falsche Lösungen wie Geo-Enggineering propagieren, die unsere Abhängigkeit von fossilen Energieträger nicht verringern würden. Außerdem lenken Sie uns von großen, systemverändernden Lösungen ab, indem sie den Fokus auf unser individuelles Verhalten richten. Als ob es auf Einzelpersonen ankäme. [...]

Wir können natürlich versuchen, was Gandhi gefordert hat: die Veränderung zu sein, die wir in der Welt sehen wollen. Aber Individuen spielen vor allem dann eine relevante Rolle, wenn sie gemeinsam handeln, wählen gehen und politisches Handeln fordern.


Zeit: wie genau verhindert die fossile Energielobby, dass das geschieht.?


Mann: Sie greift auf bewährte Taktiken zurück, die auf ähnliche Weise auch von der Tabakindustrie oder von der Waffenlobby verwendet wurden. In den USA wehrte sich die Waffenlobby gegen schärfere Waffengesetze mit dem Slogan: "Waffen töten keine Menschen, Menschen töten Menschen." Heute verwenden die Profiteure im Umfeld der Kohle-, Öl- und Gaskonzerne ein ähnliches Drehbuch. Das Konzept des "persönlichen CO2-Fußabdrucks" zum Beispiel wurde in den 2000er-Jahren in den USA vor allem vom Energiekonzern PP populär gemacht. [...]

Mann: "Die Pandemie ist eine Lektion über unseren Platz auf diesem Planeten, über Verwundbarkeit und Nachhaltigkeit, darüber, wie tödlich Wissenschaftsfeindlichkeit sein kann. Die Pandemie hat dazu beigetragen, den Weg für eine gute Klimapolitik frei zu machen."

(ZEIT 15.4.21, S.6)

Mittwoch, 14. April 2021

Antigentest, Antigen und Antikörper

 Antigen

Antikörper

Antigen-Antikörper-Reaktion

Antigenerbsünde

Ist unsere Erbsünde, dass wir diese Begriffe erst jetzt in unseren Wissensvorrat aufnehmen oder dass wir weiterhin vor uns rechtfertigen, dass wir immer mehr von unserer Lebensumwelt zerstören?

"Der Verlust der Welt

"Wir sind daran gewöhnt, die Welt zu verlieren: das ist unsere Form, in ihr zu leben. Wir werden nicht plötzlich schockiert innehalten und alle Hebel umlegen, wenn der nächste Grenzwert überschritten ist oder eine noch süßere Tierart ausstirbt [...] Wir werden in Quarantäne und Verteilungskämpfen stecken und unsere Gleichgültigkeit gegenüber dem Verlust von Leben weiter an Obdachlosen und Migrantinnen  stärken. [...] Die einzige Perspektive, aus der man hoffen kann, im Angesicht der Katastrophe Orientierung zu gewinnen, ist die, die erkennt, dass die Katastrophe schon da ist." (S. 109)
Es liegt nicht am zukünftigen Ausmaß der Katastrophe, dass wir sie so schwer zu fassen vermögen, sondern an unserer hergebrachten Beziehung zu ihrem Objekt.
Es könnte also ein Weg zur besseren Kriseneinsicht sein, die Struktur dieses Weltverlustes nachzuzeichnen. In ihrem Werk Vita Activa entfaltete Hannah Arendt 1955 ihre Diagnose des Weltverlusts. Sie beschreibt die moderne Entfremdung von der geteilten Welt als Effekt dessen, dass sich in kapitalistischen Gesellschaften die Grenzen verschiedener Tätigkeiten verschieben. Diese Verschiebung besteht darin, dass die Logik eines Bereichs ausufert und auf einen anderen übergreift, der dadurch ruiniert wird." (S. 110)


Doch jetzt was fürs Gemüt:

Der Tesla-Jäger?

ELEKTRO-S-KLASSE VON MERCEDES: Der Tesla-Jäger VON GEORG MECK

"[...] „EQS“ heißt der batteriegetriebene Zwilling der S-Klasse, den er am Donnerstag der Welt präsentieren wird, mit aller ihm zur Verfügung stehenden Inbrunst. „Ein spektakuläres Auto“, sagt Källenius. „So etwas hat die Welt noch nicht gesehen.“ [...]"

FAZ 14.4.21 

CCC warnt vor Luca-App

 Luca-App (Wikipedia)

Chaos Computer Club (CCC) (Wikipedia)

https://www.appgefahren.de/luca-app-chaos-computer-club-fordert-bundesnotbremse-298808.html


https://www.n-tv.de/politik/Chaos-Computer-Club-warnt-vor-Luca-App-article22488812.html

"Die Luca-App soll die Zettelwirtschaft bei der Kontaktverfolgung beenden. Gleich zwölf Bundesländer investieren Steuergelder, um sie einsetzen zu können. Doch Computer-Experten stellen beim genaueren Hinsehen "unnötige" Sicherheitslücken fest.

Die europäische Hackervereinigung Chaos Computer Club (CCC) hat gefordert, keine Steuermittel mehr für die Luca-App zur Corona-Kontaktnachverfolgung auszugeben. Club-Sprecher Linus Neumann verwies auf eine "nicht abreißende Serie von Sicherheitsproblemen" bei dem System. Zuvor hatten Datenschutz-Aktivisten auf Schwachstellen bei den Luca-Schlüsselanhängern verwiesen, die für Menschen ohne Smartphone gedacht sind.

"Wer den QR-Code (eines Schlüsselanhängers) scannt, kann nicht nur künftig unter Ihrem Namen einchecken, sondern auch einsehen, wo Sie bisher so waren", kritisiert Neumann. Er verwies dabei auf Recherchen, die im Netz unter dem Titel "Lucatrack" veröffentlicht wurden. "Die Schwachstelle ist offensichtlich und unnötig. Sie zeugt von einem fundamentalen Unverständnis grundlegender Prinzipien der IT-Sicherheit."

"Dennoch verschwenden immer mehr Länder ohne korrektes Ausschreibungsverfahren Steuergelder auf das digitale Heilsversprechen", erklärt der CCC-Sprecher. [...]"

Montag, 12. April 2021

Marko Martin und Twitter (sowie der Zusammenhang)

Jüdische Allgemeine, "das auflagenstärkste Periodikum des deutschen Judentums" (Wikipedia)

https://www.juedische-allgemeine.de/

https://de.wikipedia.org/wiki/Marko_Martin

Marko Martin:

"Wäre man wirklich besorgt und nicht nur darauf bedacht, mittels «Kritik» moralischen Distinktionsgewinn einzuheimsen, gäbe es tausendundeinen Grund, die seit Jahren ins Illiberale driftende Innenpolitik der Netanyahu-Regierung zu kritisieren. Freilich müsste man in diesem Falle konkret werden und Namen nennen wie den der engstirnigen Kulturministerin Miri Regev oder des ideologisierten Siedler-Lobbyisten Naftali Bennett. Und man müsste dann aber auch die couragierte Gegenwehr des Obersten Gerichtshofs erwähnen, die quicklebendige Protestkultur in den Medien und auf der Strasse – kurz, jene seit der Staatsgründung im Mai 1948 ebenfalls quasi institutionell gewordene Situation von Dauerstreit, Debattierlust und – vor allem – tief verwurzelter Macht- und Hierarchie-Skepsis, die nicht nur im rückständigen Nahen Osten einzigartig ist."

Kitsch, Ressentiment, Projektion – die meisten unserer Israel-Bilder sind ziemlich schief (Marko Matin in NZZ 7.5.2018)

https://www.juedische-allgemeine.de/autor/marko-martin/

Twitter:

https://twitter.com/clemensetz/status/1381144104973836291

Und wie kann mensch so einen Dreck senden???

Noch stärker:
Was labert der für eine gequirlte Scheiße?!



Pfuiiii!!! Wer ist der, für den ich gerade nur Schimpfwörter übrig habe? [Eine richtige Ahnung!]

Hilfe! Ist diese Aussage eigentlich schon strafrechtlich relevant?

Entschuldige die Ausdrucksweise, aber wer ist dieser W*chser?!

Ich will nicht wissen wie er heißt. [Nichtwissenwollen schützt nicht vor Irrtum.] Ich will wissen, wieso er eingeladen wurde. [Ja, das würde helfen.]

Die Auflösung:

Der Ausschnitt ist absolut unglücklich, ABER jede/r, der/die sich ausführlich mit Marko Martin auseinandersetzt, weiß, dass er sich hier lediglich über die Ästhetisierung des Holocaust aufregt

Aber der Thread geht weiter, Dabei waren die informierenden Links schon 10 oder 20  Tweets vorher geboten worden.

Ich kannte Marko Martin nicht, nachdem ich seine Position kennengelernt habe, teile ich sie nicht. Aber die Selbstsicherheit, mit der sich die Twitternden in die Gewissheit hineinsteigern, dass diese Metaphernkritik nur von einem Rassisten oder gar Antisemiten stammen könnte, erschreckt mich schon. 35 Sekunden und schon wird der Sender kritisiert, dass er keine Zensur ausübt.

Die Pandemie und die Abwehrmaßnahmen haben differenzierende Wahrnehmung offenbar sehr erschwert. 

Ich nwhmw aber an, dass clemensetz nicht das demonstrieren wollte. 

Für die, die sich für Christian Krachts Roman Eurotrash intersessieren:

Verlagsseite mit Pressestimmen   und Rezensionen (bei Perlentaucher); Rezension FAZ