Mittwoch, 7. April 2021

Frank Uekötter: Im Strudel

 "[...] Die gängigen öko-apokalyptischen Szenarien sehe ich allerdings aus zwei Gründen skeptisch. Erstens halte ich die Erwartung einer sich klimaktisch zuspitzenden Krise für dubios. Viel wahrscheinlicher ist das, was in der englischen Sprache „death by a thousand cuts“ heißt: viele verschiedene Krisen auf allen möglichen Ebenen, die Menschen und planetarische Prozesse überfordern. Zweitens sollte man die gängigen apokalyptischen Szenarien als eines der intellektuellen Ordnungssystem verstehen, die vor allem als zeitgebundene Referenzrahmen von Interesse sind – und nicht als Blaupausen für die historische Interpretationen. Mein Buch ist auch eine Kritik an globalhistorischen Narrativen, die einen Geist von Ordnung verströmen. Die klassische Synthesefrage, wie das alles zusammenpasst, wird hier einmal anders beantwortet. Es passt alles überhaupt nicht zusammen – und genau das ist das Thema. [...]

[Frage:] Bewegungen wie beispielsweise Fridays for Future, aber auch Umweltschutzorganisationen aller Art, erinnern uns uns doch sehr eindrücklich daran, wo und wer die Ursachen und Verursacher von Umwelt- und Klimaschädigung sind. Oder sehen wir trotzdem nach wie vor das meiste nicht? 

Prof. Uekötter: Wir sehen eine Menge – und das nicht erst seit dem Aufstieg der heutigen Umweltbewegung. Legebatterien waren zum Beispiel von Anfang an tierethisch kontrovers, und Ängste vor Ressourcenerschöpfung gab es schon im 19. Jahrhundert. Es gibt freilich einen Unterschied zwischen sehen können und sehen müssen – es gibt mächtige, auch interessengeleitete Prozesse, die auf die Produktion von Unsichtbarkeit hinauslaufen. Deswegen haben wir drei Seveso-Richtlinien der EU, die Lehren aus der Chemiekatastrophe in Norditalien ziehen, aber keine Bhopal-Richtlinie, obwohl die Folgen der indischen Katastrophe weitaus gravierender waren. Von den Warenströmen bis zu den Medienwelten – ich bin mir nicht sicher, ob wir heute wirklich so viel mehr sehen als in früheren Zeiten. Es hapert oft schon beim Ringen nach Worten: Es gibt eine profunde Sprachlosigkeit im Umgang mit materiellen Herausforderungen. Das ist das zentrale Paradox unseres Lebens im Strudel: Wir wissen immer mehr, aber zugleich verengt sich der Korridor der Handlungsoptionen – nicht selten als direktes Resultat zusätzlichen Wissens. [...]

Prof. Uekötter: Ohne Zahlen und ohne Bilder geht es in der Moderne nicht – aber das ist in vielen Fällen nur das Surrogat von Erklärungen und Orientierungen. So zählen wir weiter Kalorien, obwohl das eigentlich ein ziemlich kruder Bewertungsmaßstab für Ernährung ist, und sind bei jeder Havarie eines Öltankers alarmiert, auch wenn die Bilder der Katastrophe nur einen Bruchteil des Dramas abbilden. Der jüngste Beleg ist die aktuelle Pandemie, die wie im Realexperiment beweist, was ich da über Jahre historiographisch erarbeitet habe: die Fülle der Zahlen und Bilder, die Verquickung epidemischer, medizinischer, sozioökonomischer und politischer Entwicklungen und die Orientierungs- und Sprachlosigkeit, die aus solchen sich überlappenden und verflochtenen Entwicklung entsteht. Für das Leben im Strudel haben wir noch keinen Film – und das auch deshalb, weil wir ständig Videos gucken.

(L.I.S.A. Interview mit Frank Uekötter)


Rezension zu: Frank Uekötter Im Strudel. Eine Umweltgeschichte der modernen Welt, 2020

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