Mittwoch, 7. April 2021

Deutscher Sachbuchpreis

 https://www.deutscher-sachbuchpreis.de/

Innerhalb der acht nominierten Titel habe ich eine persönliche Auswahl getroffen:

A. Kossert: Flucht. Eine Menschheitsgeschichte

Im Ankunftsland haben die, die schon da sind, die Deutungshoheit, sie allein definieren die kulturellen und sozialen Normen. Die Flüchtlinge begreifen sie nur zu oft als Bedrohung, denn sie stellen diese Besitzstände und Hierarchien infrage, und zwar nicht aus Überzeugung, sondern weil sie mit der Kultur, der Sprache und der Religion der Aufnahmegesellschaft nicht vertraut sind. Zuweilen wird schon ihre bloße Anwesenheit als bedrohlich wahrgenommen. Flüchtlinge stehen am Rand und müssen um Einlass bitten, und dennoch sind sie nicht nur Spielball politischer Entscheidungen, die von Sesshaften getroffen werden, sondern als globales und Gesellschaften herausforderndes Phänomen zentraler Akteur der Moderne – heute mehr denn je.

Das Uneindeutige endet nicht mit der Flucht. Opfer können zuvor Täter gewesen sein und ebenso umgekehrt. Bei Vertreibungen zeigt sich nicht selten das Wechselspiel von Gewalt. Vertriebene bemühen sich energisch um die Anerkennung ihres Verlusts, insbesondere wenn sie als Interessenvertretung organisiert sind, und pochen auf ihren Opferstatus. Sie sind hilflose, manchmal ungelenke Versehrte und treten zugleich kraftmeierisch auf. (Auszug aus der Leseprobe)

A. Dardan: Betrachtungen einer Barbarin

Wenn ich an die Zeit in dieser Wohnung zurückdenke, dann ist meine Mutter fast unsichtbar, weil mein Vater jeden Winkel meiner Erinnerung ausfüllt. Das mütterliche Gerüst hielt alles zusammen, aber es war die väterliche Zierde, die ich bewunderte. Er brachte mir das Fahrradfahren und Schachspielen bei, er ließ mich stundenlang auf seinem Schoß sitzen, während er persische Gedichte rezitierte oder mir die Welt erklärte. Er behandelte mich wie eine kleine Freundin, deren Gesellschaft er wertschätzte. Heute denke ich, dass ich seine einzige Freundin war, und das macht mich sehr traurig. Doch nichts an dieser Zeit wirkte verdächtig oder deutete darauf hin, dass sie von einem Tag auf den anderen enden würde. Im Grunde hatte ich eine idyllische Kindheit, auch wenn die Hochhäuser von Höhenberg nicht die klassische Kulisse dafür sind. Aber ich dachte nicht viel über mein Leben nach, ich war, und bloß sein zu können kommt einer Idylle sehr nahe. Wenn man sie nicht wahrnimmt, kann Enge sehr gemütlich sein, gerade als Kind. Ich hatte die gleiche rosa Tapete mit weißen Punkten wie Ernie aus der Sesamstraße, und ich fand es aufregend, die Tüten in den Müllschlucker zu werfen und dann in den knarzenden Aufzug zu springen. Alles befand sich an seinem Platz, und mein eigener Platz befand sich im Zentrum von allem. Erst viel später machte sich bemerkbar, dass mir die materiellen und symbolischen Anhaltspunkte fehlten, um mich und meine Eltern in dieser Welt zu verorten. Inzwischen sind mir meine Eltern entwischt, und damit sind mir auch Teile meiner selbst entwischt. Man gewöhnt sich daran, dass das Leben wie ein Netz ist, etwas bleibt ja doch darin hängen. Nach dem Rest darf man nicht greifen, sonst reißen die Maschen, und dann ist alles weg.

Da meine Eltern kaum etwas aus dem Iran hatten mitnehmen können, fingen wir ohnehin mit wenig an. Es gab in unserer Wohnung keine Familienfotos und keine Erbstücke, keine alten Bücher, keine über Jahre gesammelten Gegenstände, keine Souvenirs oder Dinge, die man einfach nicht wegwirft, obwohl sie keinen Nutzen mehr haben. Es gab dort keine Erinnerungen, nur eine hatte ich selbst erschaffen, als ich mit einem Löschstift einen lächelnden Eierkopf auf unser neues braunes Ledersofa malte. Wir hatten nicht oft Gäste, aber wenn mal jemand bei uns war, gab es immer diese Geschichte zu erzählen, wie Asal direkt an dem Tag, als das Sofa geliefert wurde, ein Gesicht darauf verewigt hatte. Auf diese Geschichte war ich stolz, auch wenn ich zu dieser Zeit noch eine brave Tochter sein wollte.

An unseren Wänden hingen mehrere Drucke von Carl Spitzweg: Der Kaktusfreund, Der ewige Hochzeiter, Der Bücherwurm. Ich weiß nicht, wie sie dorthin kamen, aber ich mochte diese Bilder, ihre Beschaulichkeit und Harmlosigkeit. Sie waren, was sie zeigten. Hübsche erdfarbene Kulissen, in denen sich manierliche Menschen bewegten, die genau dort waren, wo sie hingehörten, und dennoch der Gegenwart zu entkommen schienen. Der Kaktusfreund gefiel mir ganz besonders. Er wusste, was zu tun war, welche Kleidung er zu tragen hatte, wie er sich bewegen sollte und womit er seine Zeit verbringen wollte. Er war, was er war. Ein alter Herr mit Pfeife, der in aller Ruhe im Garten inmitten seiner Pflanzentöpfe steht und eine einzelne rote Kaktusblüte inspiziert. (Auszug aus der Leseprobe)

Es lohnt sich, die vollständigen Leseproben und die vollständigen Verlagsankündigungen zu lesen. - Ja, es sind 8 Bücher nominiert, und noch habe ich keines davon gelesen.

Mai Thi Nguyen-Kim: Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit

Nur eine Sache ist mir klarer als je zuvor: Dass wir uns immer mehr von einem gemeinsamen Verständnis von Wirklichkeit entfernen, das müssen wir dringend ändern. (Auszug aus der Leseprobe)

In dieser Ansicht stimme ich völlig mit Mai Thi Nguyen-Kim überein. Nur, was ich bisher in ihrem Blog (auf Youtube) wahrgenommen habe, lässt mich sehr daran zweifeln, dass sie dazu beitragen kann, so lange es Leser*innen gibt, die rhetorisch aufbereiteten auf Überwältigung ausgerichteten Informationen kritisch gegenüberstehen. Ihr Buch werde ich daher nicht lesen, bis mir nicht jemand dazu verhilft, meine Ansicht zu ändern. (Dieser Jemand könnte auch ich sein. Wer weiß?) Noch eins: Ihre Technik ist der von Rezo extrem ähnlich. Vielleicht ist daher ihre Darstellungsart für Jugendliche sinnvoll. Für ein begründetes Urteil wäre ich auf  das Urteil von Jugendlichen angewiesen. (Hier habe ich danach auf gutefrage.net gefragt. Dort sind auch die Antworten zu lesen. Eine, die Nguyen-Kim kritisch beurteilte, wurde gleich gelöscht. Sie war allerdings auch nicht ausgewogen, sondern eher pubertär formuliert.)


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