"Was die Korrupten, Betrüger und Gewalttätigen nutzen, um ihr Selbstbild vom guten Menschen beim abendlichen Blick in den Spiegel aufrechtzuerhalten, sind verschiedene Strategien der sogenannten moralischen Loslösung. Ein wenig wie ein psychologisches Abwehrsystem wehren die Strategien die ungewollte Vorstellung ab, möglicherweise doch ein schlechter Mensch zu sein. Beispielsweise indem die eigenen Handlungen so umgedeutet werden, dass sie nicht unmoralisch erscheinen oder die eigene Verantwortung inklusive negativer Folgen der unmoralischen Handlungsweisen gedanklich minimiert werden. Wichtig ist hierbei: Wir alle tun das, wenn wir – nur ausnahmsweise – entgegen unseren persönlichen moralischen Überzeugungen handeln.
Mit diesem Wissen beziehungsweise dieser Selbsterkenntnis im Gepäck können wir uns auf die gesellschaftliche Ebene begeben, uns also der Frage nach den „erfolgreichen Arschlöchern“ widmen. Die gesellschaftlichen Belohnungsstrukturen bestimmen, wer Erfolg hat. Ohne mich nun aber auch der Sündenbocksuche hinzugeben, schließe ich eine weitere wichtige Beobachtung an. Eine Beobachtung, die wir leider zu häufig vergessen oder zumindest unterschlagen: Gesellschaftliche Belohnungsstrukturen sind keine Naturgesetze, sondern menschengemacht.
Wir entscheiden, wer befördert wird. Wir entscheiden, wen wir wählen. Und wir müssen entscheiden, ob uns daran gelegen ist, die paradoxe Situation aufzulösen, in der wir aktuell oft versuchen, verzweifelt das „Richtige“ zu tun. Wir entscheiden, ob wir gemeinsam eine Welt schaffen wollen, in der moralische Menschen nicht nur die Kinderbuchvariante des „guten Menschen“ verkörpern, sondern gleichzeitig die erfolgreichen Menschen sind. So könnten wir das psychologische Abwehrsystem der moralischen Loslösung in den Ruhestand schicken."
Maren Urner https://www.fr.de/meinung/kolumnen/mach-gut-mensch-90405630.html 12.4.21
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