Freitag, 28. November 2014

Wie der Staat Infrastruktur und Rentner preisgibt, um Großkonzerne zu subventionieren

Der Staat verrät beide Generationen: die ältere über die Riesterrente, die jüngere durch die Verweigerung von Zukunftsinvestitionen.

Dass viele Angebote bei der Riesterrente nicht das Geld wert waren, was Staat und Rentner dafür bezahlten, ist inzwischen bekannt.
Doch bei sinkendem Zinsniveau sind selbst solche Angebote für die Versicherer nicht mehr lukrativ.
Schon gar nicht, wenn man wie die Allianz 7% Rendite erwartet. Deshalb wollen die Versicherungskonzerne nicht mehr versichern, sondern lieber Autobahnen bauen. Bei garantiertem Zinssatz natürlich.
Den Staat kostet das zwar über 80% höhere Finanzierungskosten. Die kann er aber wieder hereinholen, indem er weniger investiert und niedrigere Renten zahlt. "Zwar ist es Wahnsinn, doch es hat Methode." Man nennt es PPP („Public-private-Partnership“).

Was das im einzelnen bedeutet, erläutert Jens Berger auf den NachDenkSeiten genauer.

Übrigens: Damit man solchen Irrsinn als rational verkaufen kann, hat vorausschauend eine Zweidrittelmehrheit die Schuldenbremse ins Grundgesetz geschrieben.

Zur Erinnerung: Der Staat erhält gegenwärtig im Normalfall zum Nulltarif  Kredit, zahlt aber lieber unsinnige Prozentsätze, damit er von der schwarzen Null schwärmen und der jungen Generation eine marode Infrastruktur hinterlassen kann.

Donnerstag, 27. November 2014

Wer ist Souverän: Das Volk oder Monsanto?

Sehr geehrter Herr Schmidt,

 demnächst sollen EU-Staaten den Anbau von Gentechnik auf ihren Feldern leichter verbieten können. 
Doch es besteht eine hohe Hürde: Gentechnik-Konzerne müssen an dieser Entscheidung beteiligt werden. 
Ich fordere Sie auf: Sorgen Sie dafür, dass Konzerne nicht über ein Anbauverbot mitentscheiden – so wie es das Europaparlament fordert. 
Das Anbauverbot muss jederzeit möglich sein und auf Grundlage der Umwelt-Gesetzgebung der EU erfolgen, damit der vorsorgende Schutz von Umwelt, Verbraucher/innen und Landwirt/innen möglich ist. 

Mit freundlichen Grüßen

Hier kann man mit wenigen Klicks unterschreiben und absenden.

Mittwoch, 26. November 2014

Zwei Worte und ein "Jugendwort"

"Und so blicken wir wir heute auf das, was irgendwann zwangsläufig Alltag in einer gespaltenen Gesellschaft werden wird: Die Benachteiligten reagieren mit offener Gewalt." (Arnd Festerling in FR vom 26.11.14 über Ferguson)
"Es ist der Moment, den Gedanken eines verängstigten Europas fallen zu lassen, um ein Europa zu erwecken [...], das auf den Menschen schaut und ihn verteidigt [...], ein kostbarer Bezugspunkt für die gesamte Menschheit!" (Papst Franziskus vor dem EU-Parlament in Straßburg, 25.11.14 - Die vollständige Rede findet sich in der SZ)
Das "Jugendwort des Jahres 2014", das an sich ein einzelnes Wort sein soll, lautet "Läuft bei dir".

Dazu ein Kommentar von Jonas Jansen, faz.net, 24.11.14
"Anfang Oktober erschien auf der amerikanischen Seite 4chan ein Aufruf, doch bitte das Wort „fappieren“ zu wählen. 4chan ist bekannt für Trollaktionen und geschmacklose Bilder, die an der Grenze zur Legalität und manchmal jenseits ihrer liegen. Der Aufruf führte dazu, dass „fappieren“, was für Selbstbefriedung bei Jungen stehen soll, mit fast 50 Prozent der Stimmen auf Platz 1 der Online-Wahl landete. Wählen konnte man anonym und immer wieder. Das geht, weil Langenscheidt bei einer früheren Wahl mal feststellte, dass viel weniger Leute ihre Favoriten wählen, wenn man sich anmelden muss, wie eine Verlagssprecherin dieser Zeitung mitteilte. Was für eine Überraschung!"

Meine Zusammenstellung ist nicht zufällig. Jeder wird sich seinen eigenen Kommentar dazu machen.







Auch ich wünsche mir, dass "Läuft bei dir" ein treffender Kommentar für EU und die Menschheit wird und nicht "fappieren".

Montag, 24. November 2014

Weitere Zitate aus Osterhammel: Lebensstandards. Risiken und Sicherheiten materieller Existenz

Lebensstandards: Risiken und Sicherheiten materieller Existenz

"'Lebensstandard' ist eine sozialgeschichtliche, 'Lebensqualität' eine historisch-anthropologische Kategorie." (S.253)

Geographie des Einkommens
Osterhammel betrachtet das - geschätzte - Bruttosozialprodukt pro Kopf in ausgewählten Ländern der Welt von 1820 bis 1913 (S.255) und stellt fest:
"Die USA und Australien zogen bereits vor dem Ersten Weltkrieg an den europäischen Spitzenreitern vorbei." (S.256)

Lebensverlängerung und 'Homo hygienicus'
"Vor 1800 erreichten nur kleine Elitepopulationen wie der englische Hochadel oder die Bourgeoisie von Genf männliche Lebenserwartungen von über 40 Jahren." (S.257)

Gewonnene Lebenszeit
"Die durchschnittliche Lebenszeit (zum Zeitpunkt der Geburt) der Weltbevölkerung lag um 1800 bei höchstens 30 Jahren, [...] Der Tod kam typischerweise durch schnell ablaufende Infektionskrankheiten. Er hatte 'spitzere Waffen' (Arthur E. Imhof) als heute" (S.258)

Sauberes Wasser
Dass [...] eine Wasserpolitik entstehen konnte, setzte die Anerkennung von Wasser als öffentlichem Gut voraus. Wasserrechte mussten definiert und staatliche von privaten Ansprüchen getrennt werden. Die Herausbildung umfassender rechtlicher Bestimmungen für das Eigentum und die Nutzung von Wasser, auch für seine industriellen Verwendungen, war ein langwieriger und extrem komplizierter Prozess. Sogar im zentralistischen Frankreich wurde er erst 1964 abgeschlossen [...]" (S.261)

[1849 stellte John Snow fest, dass Cholera durch verunreinigtes Wasser übertragen wird. Seine Ansicht brauchte allerdings 15 Jahre, bevor sie sich halbwegs allgemein durchsetzte. 
In London wurden die eindrucksvollsten Leistungen beim Bau von Abwasserkanälen erbracht. Bis 1886 waren es 1 300 Meilen.]
"Technisch gesehen, hätte man die viktorianischen Abwasseranlagen schon ein Jahrhundert früher bauen können. Es war eine Frage der Problemwahrnehmung [...]" (S.263)
"Das muslimische Westasien wurde von europäischen Reisenden immer wieder für die hohe Qualität seiner städtischen Wasserversorgung gerühmt." (S.263)

Niedergang und Wiederaufstieg öffentlicher Gesundheitsverhältnisse
"Sobald neues Wissen über epidemische Zusammenhänge sowie die Technologie, dieses Wissen umzusetzen, bereitstanden, verloren die großen Städte ihre 'Übersterblichkeit' [dazu sieh: Sterblichkeit] und wurden gesündere Lebenswelten als das platte Land." (S.265)
"Die Einführung von Gesundheitssystemen war überall auf der Welt ein tiefer Einschnitt. (S.266)


Seuchenangst und Prävention
Große Tendenzen
"Zu den als neu empfundenen Leiden der Epoche gehörte die Tuberkulose." (S.269)
"In der Bevölkerung hielt sich die Vorstellung von 'Tbc' als einem vererbbaren Leiden, das möglichst verborgen werden müsse, während die Medizinbürokraten möglichst viele Fälle registrieren wollten. Auch die Fabrikanten hielten gern an der Vererbungstheorie fest, sahen sie doch keine Notwendigkeit, die Bedingungen am Arbeitsplatz zu verbessern. (S.270)

[Im 19. Jahrhundert gab es zwei gegenläufige Tendenzen. Einerseits konnten Krankheiten besser bekämpft werden, andererseits breiteten sie sich wegen verstärkter Migration und verbesserten Verkehrsmitteln schneller aus.]
"Nun wurden Seuchen immer schneller transportierbar. Der Höhepunkt war mit der weltweiten Grippeepidemie von 1918 erreicht, die je nach Schätzung 50 bis 100 Millionen Menschen tötete." (S.271)

Der Kampf gegen die Pocken
[In China beginnend, dann auch in Indien und dem Osmanischen Reich wurde seit dem späten 17. Jahrhundert die Inokulation, ein recht riskantes, aber oft erfolgreich immunisierendes Verfahren eingesetzt. Doch erst 1796 fand Edward Jenner die Möglichkeit der vergleichsweise risikolosen Schutzimpfung.]
"Vor Edward Jenner, der die schützende Wirkung der viel schwächeren Kuhpocken für den Menschen entdeckte, gab es noch kein unriskantes und für ganze Populationen verwendbares Verfahren der Pockenprophylaxe." (S.272)
"Napoleon ließ 1800 die ersten Schutzimpfungen vornehmen [...] Ägypten war schneller als Großbritannien. Dort wurde die Immunisierung erst 1853 Pflicht [...]. (S.272)
"Die Notwendigkeit der Nachimpfung wurde lange nicht verstanden." [gemeint: erkannt]  (S.273)
"Um die Mitte der 1820er Jahre waren die Pocken aus Jamaika verschwunden, [...] früher als ich den meisten anderen Teilen der Welt." (S.274) [Weil Sklaven nicht mehr ohne weiteres neu beschafft werden konnten, bemühte sich die Kolonialverwaltung sehr darum, sie vor Infektionen zu schützen.]

[ Im 19. Jahrhundert hat man vornehmlich Erfolge bei der Prävention von Krankheiten gehabt, erst im 20. Jh. kamen dramatische Erfolge bei der Heilung: In den USA sank das Risiko, an einer Infektionskrankheit zu sterben von 1900 bis 1980 auf unter 5%.]

Mobile Gefahren, alt und neu
Die Pest
[Große Ausbrüche gab es im 19. Jahrhundert vor allem in Indien und in China (und zwar am Ende des  Jahrhundert und bis ins 20. hinein. Vermutlich ist die moderne Pest aber eine andere Krankheit als der 'Schwarze Tod' im Mittelalter.]

Cholera
Obwohl Koch den Bazillus schon 1884 entdeckt hatte "dauerte es noch weitere zwanzig Jahre, bis eine einfache und billige Therapie gefunden wurde." (S.283/84)

Typhus und Fleckfieber
"Fleckfieber ist neben Typhus und Ruhr die klassische Kriegsseuche." (S.290)

Naturkatastrophen
[Die schwersten und traumatisierendsten Erdbeben lagen 1755 (in Lissabon) und 1906 (San Francisco), also außerhalb des 19. Jh.]
Vulkane 
[Tambora 1815, Krakatau 1883. Die Folge des Ausbruch des Tambora war eine Kälteperiode, die sich besonders schwer in der Schweiz und im südlichen Rheinland auswirkte.]
Überschwemmungen
[Die intensivsten Erfahrungen sammelte China mit den Ausbrüchen des Gelben Flusses aus seinem Dammsystem. Trotz guter Vorsichtsmaßnahmen und des Einsatzes von 100 000 Helfern konnte 1855 nicht verhindert werden, dass der Fluss sich ein neues Bett suchte und 300 km entfernt von der alten Mündung ins Meer floss. ]
Hunger
"Die opferreichsten [...] Hungersnöte im Asien des 19. Jahrhunderts spielten sich in Indien und China ab." (S.307)
[Aber chinesische Distriktbeamte berichteten Probleme an die Zentrale und:] "Der chinesische Staat kam solchen Hilferufen in einem Maße nach, das in Europa keine Paralelle hatte." (S.312)
"In den letzten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts wurden 5 Prozent der gesamten Getreideernte des Reiches in öffentlichen Speichern aufbewahrt." (S.312)
Nach Opiumkrieg und Taiping-Revolution "erhielt die Nahrungsmittelversorgung des Militärs Vorrang vor der zivilen Katastrophenhilfe." (S.313)

Revolutionen der Landwirtschaft

"Die eigentliche 'Agrarrevolution' fand dann im späten 18. Jahrhundert in England statt [...] Sie führte dazu, dass bereits um 1800 ein englischer Landarbeiter doppelt soviel erzeugte wie ein russischer und die Weizenproduktion pro Hektar in England und den Niederlanden fast doppelt so hoch war wie fast überall sonst auf der Welt." (S.317) "Noch 1950 kamen 85 Prozent der Zugkraft in der europäischen Landwirtschaft von Pferden." (S.318)
Die spanische Landwirtschaft erholte sich nicht davon, dass mit den Juden und Muslimen, "von denen die letzten 1609 vertrieben worden waren" auch das "agrikulturelle Wissen" verloren ging. (S.318)

Armut und Reichtum
Reichtum
"Die Spitzen des englischen und russischen Adels [...] gehörten noch Ende  des 19. Jahrhunderts zu den vermögendsten Leuten der Welt." (S.324) 
Die "größten amerikanischen Privatvermögen" lagen "um 1860 bei 25 Millionen Dollar" , vierzig Jahre später bei 1 Milliarde. "Um 1900 war der reichste US-Amerikaner zwölfmal vermögender als der reichste Europäer" (S.327)
Vor 1848 gab es in den USA, Frankreich, England und Deutschland noch "sehr reiche Männer mit demokratischen oder gar radikalen politischen Ansichten". "Spätestens in den 1880er Jahren war die klassische Plutokratie des Fin de Siècle entstanden. [...] Reichtum war mit Interessenvertretung durch konservative und rechtsliberale Parteien nahezu identisch geworden." (S.327)
"In China gab es vor der Mandschu-Eroberung von 1644 keine landbesitzende Erbaristokratie [...]  Eher Bildung als Besitz qualifizierte für die Zugehörigkeit zur Elite." (S.328)
In Japan gab es in der Edo-Zeit "eine Epoche des demonstrativen Konsums". Manche Fürsten wurden "durch die unentrinnbare Eigendynamik des Prunkwettbewerbs an den Rand des Ruins getrieben". (S.329) 
"Japan war nach 1870 eine viel 'bürgerlichere' Gesellschaft als Preußen, England oder Russland. [...] Wohlstand durch private Bauten zu demonstrieren, schickte sich nicht." (S.329)
"Vielerorts in Asien und Nordafrika war korporatives Vermögen von mindestens ebenso großer Bedeutung wie Kirchenbesitz in Europa vor Reformation und Französischer Revolution." (S.330)  Z.B. Clans, Tempel, Klöster, muslimische Heiligenschreine und "fromme Stiftungen" (waqf).
"Private Vermögensakkumulation erfolgte im 18. und 19. Jahrhundert auffällig oft in den Händen religiös-kultureller Minderheiten, die häufig großräumige Geschäftsnetze unterhielten: Juden, Parsen, Armenier, Griechen im Osmanischen Reich, Chinesen in Südostasien." (S.330)

Armut
"Die entscheidende Minimalmarkierung für Wohlstand war [...] die kontinuierliche Beschäftigung von Hauspersonal, auch in einer gemieteten Wohnung. Von dort war es noch ein weiter Weg über shabby gentility bis zu ausgesprochener Armut."(S.330)
"Im subsaharischen Afrika war der Besitz von Land ein weit weniger wichtiges Kriterium als die Kontrolle über Abhängige. Viele Herrscher im vorkolonialen Afrika besaßen kaum mehr lagerbare Schätze als ihre Untertanen. Sie hoben sich durch die Zahl ihrer Frauen, ihrer Sklaven, ihres Viehs und durch die Größe ihrer Getreidespeicher hervor. [...] Ein Armer war in Afrika jemand, der sich in einer besonders verletztlichen Lebenslage befand und der geringen oder gar keinen Zugang zur Arbeitskraft anderer hatte. Am Boden der Gesellschaft fanden sich diejenigen, die unverheiratet, kinderlos und vielleicht sogar noch wegen körperlicher Behinderung arbeitsunfähig waren. Selbst wenn sie oft besser ernährt waren als jene, um die sich niemand kümmerte, gehörten auch Sklaven zweifellos zur Schicht
der Ärmsten." (S.331)
"Im südlichen Afrika begann Armut schon vor dem Ersten Weltkrieg eine Form anzunehmen, wie sie aus den dicht besiedelten Gesellschaften Europas und Asiens bekannt ist: Landlosigkeit mehr als physische Behinderung des Einzelnen wurde zur Hauptquelle von materieller Depravation. Staatlich unterstützte Landaneignung durch Siedler war eine typische Ursache dieser Art von Armut." (S.332)
"Profile von Einkommen und Lebensstandard [kann man] überhaupt nur im städtischen Raum erheben."  (S.332)
Die Zahl arbeitsfähiger Männer in britischen Arbeitshäusern ist ein guter Indikator für das Ausmaßextremer städtischer Armut. Diese Zahlen gingen zwischen 1860 und dem Ersten Weltkrieg nicht signifikant zurück. [...] Es ist unmöglich, für das 19. Jahrhundert Armut weltweit zu quantifizieren. (S.333)

Bettelei und Mildtätigkeit
"Die Tatsache, dass in Deutschland und einigen anderen Ländern Europas gegen Ende des 19.Jahrhunderts allmählich ein Wohlfahrtsstaat aufgebaut wurde, sollte nicht davon ablenken, dass dies in vielen Teilen der Welt auch eine Epoche fortgesetzter und neu motivierter philanthropischer Bemühungen um die Armen war." (S.333)
"In Ägypten setzte sich eine alte Tradition von Generosität und Almosenspendung fort. Diese Generosität hatte nach den Geboten des Islam nicht ostentativ in der Öffentlichkeit, sondern diskret ausgeübt zu werden." (S.334) "Ägypten unterschied sich freilich in
mehrfacher Hinsicht vom nördlichen Europa: [...] Die Armen verschwanden nie aus der Öffentlichkeit, sondern machten ihre Ansprüche geltend, anders als etwa die städtischen Unterschichten Englands, bei denen seit den 1860er Jahren die Entgegennahme von Armenfürsorge und erst recht Bettelei als peinlich und entwürdigend galten. Bettelfreiheit ist ein historisch ganz seltener Zustand, und er wurde vermutlich vor dem 20. Jahrhundert fast niemals erreicht.(S.334) 

Globalisierter Konsum
"Die umfassendste interkontinentale Wechselwirkung von Ernährungspraktiken war bereits im 16. Jahrhundert erfolgt. Dieser Columbian Exchange hatte europäische Nutzpflanzen und Tiere in der Neuen Welt eingeführt und amerikanische Pflanzen nach Asien und Europa gebracht. [...] Die Kartoffel brauchte seit der Ankunft der ersten Knollen kurz vor 1600 etwa zweihundert Jahre, bis sie in Ländern wie Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien zum wichtigsten Grundnahrungsmittel wurde. Schon viel früher hatte die
Einführung ertragreicherer Reissorten die Produktion in Südostasien und China erheblich gesteigert.(S.335)
"Die amerikanische Maniok-Wurzel wurde in Afrika heimisch gemacht, [...]. Heute ist Maniok in den tropischen Teilen Afrikas die am weitesten verbreitete Nahrungspflanze." (S.336)
Kulinarische Mobilität
"Seit dem Goldrausch der Jahrhundertmitte waren Italiener in Kalifornien ansässig. Bald immigrierten sie in / viele andere Teile der USA. Sie brachten den Durum-Weizen mit, den
man für italienische Pasta benötigt." (S.336/37) 
"In keinem europäischen Land spielten aus Übersee importierte Nahrungs- und Genussmittel eine größere Rolle als in Großbritannien. Die East India Company hatte, vor
[...] die Briten zu einer Nation von Teetrinkern erzogen. [...] Der einzige andere exotische
Import, der über den engen Kreis des Luxuskonsums hinaus die Ernährung der breiten Bevölkerung veränderte, war der Zucker. [...] Der eigentliche Aufstieg
des Zuckerkonsums fand aber erst im 19. Jahrhundert statt. Die Zuckerproduktion auf der Welt verdoppelte sich zwischen 1880 und 1900 und nochmals von da an bis 1914. Der Anteil von Zucker an der durchschnittlichen Kalorienversorgung der Briten soll im Laufe des Jahrhunderts von 2 Prozent auf 14 Prozent gestiegen sein." (S.338)
"Es war eine der großen Tendenzen des 19. Jahrhunderts auf dem Ernährungssektor, dass die Industrialisierung auch die Herstellung von Fleisch erfasste und den Fleischmarkt
zu einem transkontinentalen Geschäft machte. [...] Spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nahm in Westeuropa der Fleischkonsum auch der Unterschichten deutlich zu. Zwischen den 1860er und den 1890er Jahren verdoppelte sich der Fleischverbrauch englischer Arbeiterfamilien auf mehr als ein Pfund pro Kopf in der Woche. Die Japaner [...]  bekehrten sich von vegetarischer Ernährung zum Verzehr von Fleisch. [...] 1876 wurde erstmals argentinisches Rindfleisch per Kühlschiff nach Europa gebracht." (S.339)
"Romantische Sozialtypen wie der nordamerikanische Cowboy und der argentinische Gaucho waren das mobile Proletariat einer weltweit operierenden Fleischindustrie. [...]
1905 wurden 17 Millionen Tiere getötet. Es ist kein Zufall, dass eine der schärfsten literarischen Attacken auf den amerikanischen Kapitalismus, Upton Sinclairs Roman The Jungle (1906), seinen Schauplatz in den Chicagoer Schlachthöfen hat [...]." (S.340)

Warenhaus und Restaurant
"Die Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion in der westlichen Welt [...] stand in einem wechselseitigen Zusammenhang mit anderen Aspekten des sozialen Wandels. Eine steigende Berufstätigkeit von Frauen in der Unterschicht und unteren Mittelschicht verminderte die für Haushaltsarbeit übrige Zeit und erhöhte den Bedarf an Fertigprodukten.
[...] Der Übergang vom Markt zum Laden [...] war eine notwendige Begleiterscheinung
der Industrialisierung und Internationalisierung der Nahrungsmittelproduktion.
Auch die spektakulärste Erfindung im Handel des 19.Jahrhunderts, das Warenhaus, setzte die standardisierte Massenproduktion vieler der angebotenen Waren voraus." (S.341)
"Eine weitere Neuheit, [...] das Restaurant, ist keine europäische Erfindung. Mehr spricht für die Polygenesis dieser Form kommerzieller Verpflegung. Von Schenken, Tavernen und Wirtshäusern aller Art, wie es sie seit frühen Zeiten in zahlreichen Zivilisationen
gegeben hat, unterscheidet sich das Restaurant durch zwei Eigenschaften: Auf der einen Seite machte es Kochkunst von einer Qualität, die bis dahin nur an Höfen und im privaten Raum der Residenzen von Reichen ihren Ort hatte, jedem zugänglich, der es sich leisten konnte. Das Restaurant demokratisierte den guten Geschmack. Auf der anderen Seite war der Restaurantbetreiber ein freier Unternehmer, der ein Produkt und eine Dienstleistung anbot, ohne sich durch Zünfte und Gilden binden zu lassen. [...]  Die Französische Revolution zerstörte den königlichen Hof mit seiner auch kulinarischen Prachtentfaltung und machte eine große Zahl von Privatköchen der [...] Aristokratie arbeitslos. So entstand ein neues Angebot auf einem neuen Markt: Die Kochkunst wurde einem zahlungskräftigen städtischen Bürgertum zugänglich. [...] zu den großen Attraktionen von Paris für den aufblühenden Luxustourismus gehörte die einzigartige Spitzengastronomie der Metropole. [...] [Wohl seit] den 1860er Jahren [...] entwickelten sich Fish & Chips zur identitätsstiftenden Lieblingsmahlzeit der britischen Arbeiterklasse" (S.343)
"Spitzenküche konnte [...] in China viel früher in die Öffentlichkeit gelangen. Was in Frankreich nach der Revolution geschah, war damals in China schon eine Selbstverständlichkeit. [...] Offensichtlich ist das Restaurant eine ostasiatisch-europäische
Doppelerfindung mit einem deutlichen ostasiatischen Vorsprung, aber keinem Hinweis darauf, dass Europa das Restaurant in einer ähnlichen Weise aus China übernommen hätte, wie es sich im 18. Jahrhundert in der Gartenkunst anregen ließ.
Mit veränderten [...] Konsumgewohnheiten verbanden sich neue Formen der Vermarktung. [...] Die 1880er Jahre sahen die Geburt des Markenartikels und seiner Verbreitung durch marketing, also durch generalstabsmäßig ausgetüftelte Strategien der Markt-'Eroberung'. (S.344) [...] CocaCola gehörte [...] zur ersten Generation der großindustriellen Nahrungs-
und Genussmittelproduktion [...] Die zentralen Produkte dieser Branche von Heinz' Ketchup über Kellogg's Cornflakes bis zu Lever's Margarine waren allesamt Kreationen des Labors. Markenartikel verbreiteten sich rasch um die Welt." (S.345)
"Ein weiteres Element des neuen Marketingkomplexes, ein entscheidendes für die Reichweite seiner Marktdurchdringung, war der Versandhandel, selbstverständlich auch er
eine amerikanische Erfindung. [...] Eine unerlässliche Voraussetzung war die Eisenbahn, eine weitere Erleichterung die Auslieferung auch von schweren Paketen durch die staatliche Post seit 1913. [...] In den frühen 1980er Jahren hat die Geschichtsforschung den Konsumenten und die Konsumentin wiederentdeckt [...]. Wann begann die Konsumgesellschaft? [S.345] Mögliche Kandidaten: "England im 18.Jahrhundert", "das China der Zeit zwischen etwa 1550 und 1644". "China hat sich dann allerdings nicht in diese
Richtung weiterentwickelt [...]. Globalhistorisch interessant ist vor allem die Frage, in welchem Maße bereits im 19. Jahrhundert euro-/amerikanische Konsummuster und Konsumziele in der übrigen Welt übernommen wurden. (S.346/47)
"In der Belle Epoque um die Jahrhundertwende erreichte die Identifikation der lateinamerikanischen Oberschicht mit der Zivilisation und Warenwelt Englands und Frankreichs ihren Höhepunkt. [...]  Die gesamte Urbanität Lateinamerikas erhielt ein europäisches Gepräge, denn nicht nur Kleidung und Mobiliar wurden importiert, sondern auch die typischen Institutionen des zeitgenössischen Europa: das Restaurant, das Theater, die Oper, der Ball. Französische Spitzenköche wurden abgeworben, und bei den offiziellen Feierlichkeiten zum Jubiläum der Unabhängigkeit 1910 wurde kein einziges mexikanisches Gericht serviert. [...]  Ein Höhepunkt des Imitierens europäischer Referenznormen war die
Übernahme der schweren englischen Herrenkleidung in subtropischen und tropischen Klimazonen. [...]  In Rio de Janeiro und vielen anderen Städten hatten sich Herren bei allen Temperaturen und Feuchtigkeitsgraden im Pinguin-Kostüm zu zeigen: schwarzer Cutaway mit gestärktem weißem Hemd und weißer Weste, Krawatte, weißen Handschuhen und Zylinder. Damen aus wohlhabenden Kreisen zwängten sich in Korsetts und hüllten sich in Lage um Lage schwerer Stoffe. [...] Solches Martyrium war der Preis von 'Zivilisiertheit'. (S.348)
Lange Wege zur 'Zivilisation' hatten jene tropischen Kulturen zurück/zulegen, in denen auch die Oberschicht traditionell nicht in europäischer oder islamischer Bedecktheit öffentlich aufzutreten pflegte. (S.348/49) König Chulalongkorn, der Reformer Siams, gab sich alle Mühe, seinen Untertanen eine geschlossenere Kleidung nahezubringen. [...] In Lagos hatte sich schon in den 1870er und 1880er Jahren eine kleine Gruppe westlich orientierter Afrikaner in Gehröcken und aufwendigen Damenkleidern ein geselliges Leben mit Kirchgang, Ball, Konzert und Cricket-Match geschaffen. Gandhi, der große Symbolpolitiker und Freund von Sparsamkeit, kehrte den Prozess später um: Aus dem spätviktorianischen Stutzer, als den ihn frühe Photographien zeigen, wurde der nackte Fakir», wie Winston Churchill ihn schmähte. [...] Stärker war hingegen die kulturelle Widerständigkeit in West- und Ostasien. Sultan Mahmud 11. hatte für die hohe osmanische Bürokratie Herrenkleidung westlichen Stils vorgeschrieben. [...] Im Straßenbild Istanbuls
waren Männer noch lange vorwiegend traditionell gekleidet, Frauen wurden nicht vor den 1870er Jahren in europäischer Kleidung photographiert. (S.349)
[...] nach dem politischen Systembruch der Meiji-Renovation von 1868 - öffnete sich Japan dem Westen und initiierte eine Modernisierungspolitik, die neue Organisationsformen für Staat, Justiz und Wirtschaft direkt aus Europa und, sekundär auch den USA, übernahm.
Dieser sehr weitgehenden strukturellen Europäisierung entsprach aber keineswegs eine ähnlich weitgehende Entjapanisierung des privaten Lebens. Die Vorzüge etwa der tradierten japanischen Kleidung wurden nicht aufgegeben. Zwar erschienen die Spitzen des Meiji-Staates bis hin zum Kaiser seit einem Staatsratsbeschluss von 1872 in Gehrock, Zylinder und
Uniformen westlichen Stils, [...] doch hielt sich im häuslichen Bereich die japanische Kleidung. [...] Der Hut wurde zu einem universalen Symbol von Bürgerlichkeit. Der japanische Staatsdiener stellte ihn ebenso zur Schau wie ein afrikanischer oder indischer Rechtsanwalt oder sonntags der bessergestellte Arbeiter in der polnischen Industriestadt Lodz. [...] In China war die Widerständigkeit gegen westliche Konsummuster noch größer als in Japan. Westliche Kleidung fand überhaupt erst durch die Militärreformen der Qing-Dynastie nach 1900 Eingang in die chinesische Kleidungspraxis. Noch auf Photographien und Filmausschnitten aus der Zeit der nationalistischen Protestbewegung von 1919 [...] sieht man die politisch radikalen und oft mit europäischer Kultur gut vertrauten Professoren und Studenten Pekings in den traditionellen bodenlangen Gelehrtengewändern voranschreiten.(S.350) 
"Man findet aber auch den umgekehrten Effekt einer europäischen Akkulturation an asiatische Sitten. [...] Die umgekehrte Akkulturation war im Indien des 18.Jahrhunderts an der Tagesordnung [...]  Im 19. Jahrhundert war dergleichen noch in Niederländisch-
Ostindicn möglich. (S.351) Dort hatten sich die Weißen im 18.Jahrhundert so weit orientalisiert, dass die Briten, die während der Napoleonischen Kriege Java von 1811 bis 1816 besetzt hielten, sich dort sehr um die 'Zivili/sierung' der angeblich dekadenten Kolonialholländer sorgten: Den Männern sollte das unverheimlichte Konkubinat mit einheimischen Frauen, den Holländerinnen das Faulenzen, Betelkauen und Tragen orientalischer Kleidung abgewöhnt werden. Ohne großen Erfolg [...] (S.351/352)
"Es kann nicht deutlich genug betont werden, dass die Anlehnung an
europäische Muster in sehr vielen Fällen ein kultureller Vorgang auf freiwilliger
Grundlage war. Kolonialbehörden und Missionare mochten gelegentlich nachhelfen, doch war dies keineswegs die Regel. (S.352) Auf der Insel Madagaskar [...] entstand seit den 1820er Jahren eine phantasievolle Architektur europäischer Amateurbaumeister. [...] Jean Laborde [...] baute 1839 einen neuen Palast für die Königin, geschickt einheimische
Stilelemente mit Neugotik verbindend und das Ganze durch europäische Bautechnik stabilisierend." (S352) "Spätere Baukünstler führten Granitfassaden, Balkone und romanische Rundbögen ein. So entstand ein neuer amtlicher Stil, der der Hauptstadt Antananarivo, wo die Hofdamen neue Pariser und Londoner Mode trugen, ein unverwechselbares Aussehen verlieh. Dabei gehörte die Merina-Monarchie keineswegs zu den eifrigsten Selbst-Verwestlichern der Zeit. Mehrfach wurde das Land politisch nach außen abgeschlossen, und man hegte ein tiefes Misstrauen gegenüber den Absichten der Europäer." (S.353)
"Lebensstandards, als Ensemble materieller Umstände oder Maß von physischem
Wohlbefinden verstanden, sind teils für größere abgegrenzte Gesellschaften im Wesentlichen identisch, teils sozial und regional, nach Geschlecht und Hautfarbe innerhalb solcher Gesellschaften ungemein differenziert. Die epidemologische Situation zum Beispiel kann für Mitglieder einer Gesellschaft auch dann sehr ähnlich sein, wenn es große
Einkommensunterschiede zwischen ihnen gibt. Reiche waren vor Pocken und Cholera nicht sicherer als Arme. Lebensstandards lassen sich einerseits ungefähr quantifizieren und in eine Rangordnung bringen: In der Schweiz «lebt es sich» heute zweifellos besser als in Haiti. Andererseits besitzen einzelne Gesellschaften und Gesellschaftstypen unterschiedliche
Maßstäbe: Reichtum unter Reisbauern ist etwas anderes als Reichtum unter Beduinen oder unter Ladenbesitzern. Gesellschaften und soziale Gruppen in ihnen unterscheiden sich dadurch, was sie als 'Krankheit' wahrnehmen und in welcher Sprache sie darüber reden. Es gibt Krankheiten, die für bestimmte Epochen charakteristisch sind. Um die Jahrhundertwende klagte man in Mitteleuropa über 'Neurasthenie', ein Befund und Ausdruck, der heute aus der Medizin so gut wie verschwunden ist. Umgekehrt kannte das 19.Jahrhundert den Begriff 'Stress' noch nicht, der in den 1930er Jahren aus der physikalischen Materialkunde übernommen wurde. [...] Das 19.Jahrhundert war, weltweit und in seiner gesamten zeitlichen Erstreckung gesehen, zweifellos eine Zeit, in der sich die materiellen Lebensumstände eines großen Teils der Weltbevölkerung verbesserten. (S.353)
"Interessanter ist, dass keineswegs alle Tendenzen immer in dieselbe Richtung weisen, dass sie sich sogar oft widersprechen. Dafür gibt es viele Beispiele: In Großstädten erzielten viele Menschen im frühen 19. Jahrhundert ein höheres Einkommen als auf dem Lande, aber oft unter schlechteren Umweltbedingungen. [...] Oder auf einem anderen Gebiet, der Ernährung: In Europa war ein 'langes' 18. Jahrhundert, das bis in die 1840er Jahre reicht, noch ein Jahrhundert des Hungers gewesen. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts machte sich dann aber in Europa die 'Delokalisation' des Hungers bemerkbar, also die Beschaffbarkeit von Nahrungsmitteln über große Entfernungen hinweg [...]. Das Beispiel
der indischen Hungersnöte zeigt jedoch, dass eine solche Erweiterung der Zirkulation für wirtschaftlich schwächere Erzeugerregionen fatale Folgen zeitigen konnte. Fortschrittsopfer finden sich daher nicht allein unter denen, die 'zurückblieben' oder von den Neuerungen gar nicht erreicht wurden. [...] Viele Aspekte von Lebensstandard hat dieses Kapitel nicht behandelt. Weniges zum Beispiel offenbart den Charakter einer bestimmten Gesellschaft
besser als die Art und Weise, wie sie mit Schwachen umgeht: mit Kindern, Alten, Behinderten, chronisch Kranken. Es müssten daher Geschichten der Kindheit und des Alters erzählt werden." (S.354)
(J. Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 2009)

Sonntag, 23. November 2014

Jüdische Friedhöfe bei Youtube

Jüdische Friedhöfe bei Youtube
z.B. Friedhof in Prag,
dito auf englisch
Jüdische Gräber auf dem Ölberg
Kartographie von Gräbern auf dem Ölberg
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Beispiel für ein Suchergebnis: Allersheim

Mein Dank für diese Hinweise geht an Franz1957

Riester-Rente ein Beispiel für politische Korruption?

Schon am 25.4.2008 formulierte Albrecht Müller  auf den NachDenkseiten:
"Die Zerstörung der gesetzlichen Rente zugunsten einer privaten Altersvorsorge ist ein heutzutage leider typischer Fall von politischer Korruption." (Riester-Rürup-Täuschung)
Was man in der Wikipedia inzwischen an Darstellungen unparteiischer Institutionen über die Riesterrente lesen kann, macht es in der Tat unverständlich, wieso für ein solches Konstrukt 13 Milliarden Euro ausgegeben werden konnten. Norbert Blüm - zugegebenermaßen nicht unparteiisch - meint sogar, die "13 Milliarden Euro Förderung, mit der der Bund die Private Altersvorsorge fördere, komme bei Licht betrachtet „Allianz & Co.“ zugute."

In der Tat: Was soll man von einer Versicherung halten, von der DIW und Friedrich-Ebert-Stiftung einhellig feststellen:
Um das Eingezahlte herauszubekommen, müsse ein 35-Jähriger, der 2012 einen Riester-Vertrag abschließt und mit 67 in Rente geht, bei einigen Verträgen „90 Jahre alt“ werden. Erst dann komme er in den Genuss von Zinsen oder erwirtschafteter Rendite. Selbst wenn die derzeit üblichen Überschusszahlungen in die Rechnung einbezogen würden, erhalte der 35-jährige Mustersparer „erst im Alter von 85 sein Geld zurück“. (''Magere Rendite bei Riester-Rente Alt werden ist Pflicht''.  Der STERN online, 23. November 2011)
Unter den Bedingungen der gegenwärtigen Zinssenkungen hat sich die Situation für die Versicherer verschlechtert. Daher werden die Renditen noch weiter zurückgehen.
Politiker, die jetzt noch an der Rieste-Rente festhalten, setzen sich in der Tat dem Verdacht der politischen Korruption aus.

Argumente für die Riester-Rente, FR 29.9.2014
Bezeichnenderweise wird im Blick auf die Rendite empfohlen, Aktienfonds zu wählen, auch wenn sie höhere Verwaltungsgebühren kosten. Dann folgt:
In der Regel müssen Anleger pro Jahr 1 Prozent an Kosten aufwenden, berichtet die Zeitschrift „Finanztest“ (Heft 10/2014). Manche Anbieter verlangen sogar 2 Prozent pro Jahr. Dennoch kann sich ein Vertrag lohnen, denn diese Riester-Variante hat die höchsten Renditechancen. Selbst bei starken Aktienkurs-Schwankungen können Sparer kein Geld verlieren, wenn sie den Vertrag bis zum Ende durchhalten. (Hervorhebung von mir)

Das bis zum Ende durchhalten kann freilich - wie andere Rechnungen zeigen - fordern, dass man deutlich über 80 Jahre alt werden muss (sieh oben).
Ich habe nichts nachgerechnet. Versicherungsmathematik ist aufwändig, auch braucht man viele Daten, die man als Privatperson nicht leicht bekommt.
Aber diese Aufstellung vom September scheint mir an dem Hauptproblem, dass zunächst die Versicherungen, dann der Staat (der geringere Sozialleistungen erbringen muss, weil die Riester-Rente von anderen Ansprüchen abgezogen wird) und zuletzt - vielleicht - auch der Versicherte profitieren, nichts zu ändern.

Bert Rürup zur Grundrente, ZEIT 14.11.19

Samstag, 22. November 2014

Atommüllfässer zersetzen sich

Beschädigte Atommüllfässer an 17 Standorten ndr.de 18.11.14
Sie lagern teils seit Jahrzehnten, ohne dass überprüft wurde, ob sie halten. Sie zersetzen sich, weil der Inhalt nicht so trocken ist, wie vermutet, und jetzt zum radioaktiven Brei wird, der sich nicht einfach umfüllen lässt.

Dadurch hat sich die im Endlager unterzubringende Menge an Atommüll "plötzlich" verdoppelt.

Bislang wurde für Schacht Konrad eine Abfallmenge von 298 000 Kubikmetern Atommüll prognostiziert, meist aus dem Abriss der Atomkraftwerke. Stattdessen gehe der Bund nun "von einer Gesamtmenge der zu entsorgenden Abfälle mit vernachlässigbarer Wärmeentwicklung von rund 600 000Kubikmetern" aus, heißt es in dem Entwurf. (Bundesregierung rechnet mit doppelt so viel Atommüll, SZ 18.11.14)

Entwurf des nationalen Entsorgungsplans Mehr Atommüll als bekannt tagesschau.de 18.11.14
Und immer noch wird laufend neuer Atommüll produziert, obwohl es noch kein Endlager für die hochradioaktiven Brennstäbe gibt (was mal als notwendige Voraussetzung für den Betrieb von Atommeilern überhaupt galt - und was sachlich gesehen auch unabdingbar ist).

Eon will nicht für Endlager-Suche zahlen, SZ 20.11.2014

Vorgeschichte:
Atommüll als angeblicher Wertstoff für den Export nach Russland vorgesehen:
SZ 27.2.2013

Anarchie in der Nachkriegsphase

Keith Lowe schildert in "Der wilde Kontinent" Rache, Vertreibung und ethnische Säuberungen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die aus verständlichen Gründen lange nur recht eingeschränkt öffentlich angesprochen wurden.

In seinem neuen Buch spannt Keith Lowe einen weiten Bogen. Dieser reicht von den überlebenden jüdischen Lagerhäftlingen und Zwangsarbeitern über die Vertreibung der Deutschen, die Vergeltungsmaßnahmen an deutschen Soldaten in sowjetischer Kriegsgefangenschaft und an Kollaborateuren in den von Deutschland besetzten Ländern, weiter über die ethnischen Säuberungen in Polen, der Ukraine und auf dem Balkan bis hin zu den Bürger- und Partisanenkriegen im Zuge der gewaltsamen Unterwerfung Osteuropas durch die Sowjetunion. Abgrundtiefer, weltanschaulich und nationalistisch aufgeladener Hass und grenzenloses Racheverlangen waren der Antrieb dieser Mordlust. [...] 
Ein polnischer Partisan beschreibt die Rachespirale des Gewaltkonflikts: "Sie hatten zwei Nächte vorher sieben Männer getötet. In dieser Nacht töteten wir sechzehn von Ihnen. Eine Woche später antworteten die Ukrainer, indem sie eine ganze polnische Siedlung auslöschten, die Häuser anzündeten, alle Bewohner töteten, die nicht hatten fliehen können, und die Frauen vergewaltigten, die ihnen in die Hände fielen. Zur Vergeltung griffen wir ein noch größeres ukrainisches Dorf an, und diesmal töteten zwei oder drei Mann aus unserer Einheit auch Frauen und Kinder. Die Ukrainer rächten sich. So eskalierten die Kämpfe. Jedes Mal wurden mehr Menschen getötet, mehr Häuser angezündet, mehr Frauen vergewaltigt. Die Menschen stumpfen sehr schnell ab und töten, als hätten sie nie etwas anderes getan." (Peter Reichel: Zeit ohne Nachsicht, Die Welt, 22.11.14)

Freitag, 21. November 2014

Taxifahrer warnen: Nehme keine blutenden Fahrgäste mit

"In Guerrero fahren Taxis, die haben ein Pappschild auf dem Armaturenbrett, wo 'Nehme keine blutenden Fahrgäste mit' draufsteht." (Jennifer Clement: Gebete für die Vermissten, 2014)

Im Anschluss an das obige Zitat fährt die Rezensentin der Frankfurter Runschau fort:
"Vor diesem Hintergrund hat Jennifer Clement zehn Jahre lang für ihren Roman recherchiert und Hunderte von Interviews mit Mädchen und Frauen geführt. Und hat es geschafft, das immense Hintergrundwissen, das sie dabei angehäuft haben muss, nicht auszustellen, sondern es beim Schreiben ganz beiläufig im Hintergrund zu belassen. Ebenso wenig, und das ist noch wichtiger, ist sie der Versuchung erlegen, das Entsetzen, die Wut und Fassungslosigkeit, die sie ganz zweifellos oft gepackt haben müssen, auch nur ansatzweise durchscheinen zu lassen. Die Autorin verschwindet hinter ihrer Geschichte, übergibt die Hoheit über die Perspektive ganz und gar ihrer Hauptfigur." KATHARINA GRANZIN: Schöne Mädchen leben gefährlich, FR 20.11.14)

Donnerstag, 20. November 2014

tn3: Digitaler Fußabdruck: 6 Links, die zeigen wie Google dich sieht

Digitaler Fußabdruck: 6 Links, die zeigen wie Google dich siehttn3 digital proneers


[Damit Nutzer mitbekommen, was mit ihren Daten passiert,] haben Datenschützer und Aktivisten auf der ganzen Welt energisch für mehr Transparenz gekämpft. In Folge dessen hat Google unter anderem auch einen sogenannten „Transparency Report“  aufgesetzt, der jährlich erscheint und Interessierte über die Häufigkeit von Behördenanfragen informiert. Wie wichtig derartige Bestrebungen sind, haben Google-Chairman Eric Schmidt und Jared Cohen im vergangenen Jahr sogar in ihrem Buch „Die Vernetzung der Welt“  aufgezeigt, als sie darin klarmachten: „Wer nicht für seine Privatsphäre kämpft, wird sie verlieren.“

Mittwoch, 19. November 2014

Filme zum Mittelalter bei vimeo.com

Filme zum Mittelalter bei vimeo.com

Vom Wert der Handschrift

Schreiben mit der Hand wird immer mehr zurückgedrängt.

Es gibt Studien, nach denen Notizen per Hand besser gemerkt werden als solche per Tastatur.
Sind sie nur interessengeleitet, oder könnte etwas an den Begründungen für die beobachteten Unterschiede stimmen?

Vom Wert der Handschrift, Die Presse.com, 18.11.14

Dienstag, 18. November 2014

Welches Denken in Einflusssphären ist erlaubt?

Nach einem Bericht von KATJA TICHOMIROWA in der Frankfurter Rundschau sagte Merkel
„Altes Denken in Einflusssphären, das internationales Recht mit Füßen tritt, das darf sich nicht durchsetzen“
und fügte dem später hinzu:
Russland stelle nach dem Schrecken zweier Weltkriege und dem Ende des Kalten Krieges die europäische Friedensordnung infrage, kritisierte die Kanzlerin. Sie wolle nicht zurück in die Zeit der DDR, in der ohne die Zustimmung Moskaus keine politische Entscheidung möglich gewesen sei: „Ansonsten muss man sagen: Wir sind zu schwach, passt auf Leute, wir können keinen mehr aufnehmen, wir fragen erst in Moskau nach, ob das möglich ist. So war es 40 Jahre lang, und da wollte ich eigentlich nicht wieder hin zurück“, sagte Merkel. (Beide Zitate in: Die Zornige, FR 17.11.2014)
Da fragt sich: Welches Denken in Einflusssphären ist problematischer, eines, das die vorhandene zu bewahren sucht oder eines, das sie gegen den Willen des anderen auszuweiten versucht?

Offenbar fühlt sich die EU gegenwärtig stark genug, die Ukraine ihrer Einflusssphäre zuzuordnen, auch wenn diese deswegen auf ihre überwiegend russisch besiedelten Gebiete verzichten muss.
Oder wie sonst kann man die Tatsache interpretieren, dass die Ukraine ihre Staatsvertreter aus diesen Gebieten zurückzieht und auch sonstige staatliche Leistungen für Bewohner dieser Gebiete von jetzt ab verweigert und parallel dazu die EU der Ukraine Hilfen bei der Verbesserung ihrer Infrastruktur verspricht?

Über die Position Putins berichtet Viktor Funk am gleichen Tag in der Frankfurter Rundschau:
Auffallend im Interview ist, dass Putin stets von „unseren westlichen Partnern“ spricht, und dass er Bundeskanzlerin Angela Merkel wertschätzend erwähnt. Putin sagt, dass er mit der Bundesrepublik für die Einhaltung der Minsker Abkommen eintreten wolle. Allerdings schränkt er ein: Auch der Westen müsse auf seine „Klienten“ in Kiew einwirken. Die Ukraine ist in Putins Augen ein Spielball verschiedener Kräfte. [...]
Man muss Putins Positionen nicht teilen, aber einmal mehr hat er sich weit aus dem Fenster gelehnt und sich als Partner angeboten.
Angesichts der mehr als 4000 Toten in der Ostukraine, des Syrien-Krieges und neuer Probleme im Nahen Osten müssen sich westliche Politiker fragen, ob sie Putin weiterhin als Paria behandeln wollen. (PUTIN IN DER ARD: Putin will kein Paria sein, FR 17.11.14)
 Wie sollte man sich in dieser Konfliktsituation verhalten?