Samstag, 9. November 2019

WERTORIENTIERUNG IN UMBRUCHZEIT

Der folgende Text stammt von 1990, seine Kernaussage scheint mir heute aktueller denn je:
Zu Wirtschaftlichkeit führt der Markt nur, wenn sich die Knappheit der Güter auch in den Preisen niederschlägt. Deshalb habe ich die dazu gehörende Passage unten hervorgehoben.
Freilich habe ich damals nicht deutlich genug gesehen, dass das wichtigste wirtschaftliche Gut die Fähigkeit unseres Ökosystems ist, ein Gleichgewicht herzustellen, das über Jahrtausende nahezu gleich günstige Überlebensbedingungen für die Menschheit schafft. Und vor allem habe ich  nicht gewusst, wie knapp dieses Gut ist. 
Die Rolle der Weltmeere, die Gefährdung der Biodiversität, auch die Gefährlichkeit von Mikroplastik und viele andere Gefährdungen dieser Fähigkeit des Ökosystems sind in den 29 Jahren seit Abfassung des Textes weit besser erforscht worden, und dank Fridays for Future sind diese Forschungsergebnisse auch einer weiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. 

Der wirtschaftliche Umgang mit knappen Gütern hat allerdings nicht zugenommen. Auch die Klimakonferenz von Paris 2015 und der weltweite Protest gegen die Vernachlässigung des Klimaschutzes haben fast nur Lippenbekenntnisse hervorgerufen. Die Vielzahl ökologisch orientierter Aktivitäten, die schon seit Jahrzehnten betrieben werden, sind leider kein Gegenbeweis. 
Der weltweite Zusammenbruch des wirtschaftlichen und politischen Systems der sozialistischen Staaten hat bei vielen die Vorstellung ausgelöst, damit habe sich das wirtschaftliche und politische System des Westens als das beste erwiesen. Zwar ist uns aus der täglichen Politik nur zu geläufig, daß dieses westliche System auch nicht vorbildlich funktioniert. Aber diese Erkenntnis läßt sich leicht mit dem Argument relativieren, das Churchill für die Demokratie gebraucht hat: Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen außer denen, die man bisher ausprobiert hat.
Entsprechend ist dann auch unser westliches System nur scheinbar zu kritisieren, in Wirklichkeit aber das beste, das es je gegeben hat. Soweit scheint das alles stimmig. Aber leider ist doch ein Haken dabei. Man hat dem Experiment mit dem "Sozialismus" nämlich zu ungenau zugeschaut.
Das Scheitern des "Sozialismus", wie er sich als "realexistierender" entwickelt hatte, bedeutet nämlich zunächst nichts weiter, als daß zwei altbekannte Grundannahmen bestätigt worden sind:
1. Daß Wirtschaften der Umgang mit ·knappen· Gütern sei und deshalb jede Verschwendung sich früher oder später als unökonomisch und daher als nicht konkurrenzfähig erweisen werde.
2. Daß politische Macht kontrolliert werden müsse. Der realexistierende Sozialismus mit seiner Zentralverwaltungswirtschaft und dem Einparteienstaat hat diese Grundannahmen in
der Tat in einer Weise verleugnet, daß man sich im Nachhinein verblüfft fragt, wieso tatsächlich selbst im Westen, wo freies Denken erlaubt war, Menschen geglaubt haben, das Experiment könne gutgehen.
Freilich, auch die gegensätzlichen wirtschaftlichen und politischen Systeme des Westens berücksichtigen diese Grundannahmen ( früher hätte man wohl gesagt: Wahrheiten ) nicht genügend.
Daß Energie, Rohstoffe und Arbeit knapp sind, wird von uns in einer Weise vernachlässigt, die nahezu an die realexistierende sozialistische Ignoranz heranreicht. Die ökonomische Unvernunft des Agrarsystems der Europäischen Gemeinschaft ist mittlerweile beinahe sprichwörtlich geworden.
Nicht berücksichtigt wird bei der Kritik daran zumeist, daß die Subventionierung des Agrarsektors in allen westlichen Volkswirtschaften verbreitet ist (in der oft als Vorbild gesehenen japanischen Wirtschaft sogar besonders extrem). Daß der gegenwärtig explosionsmotorgesteuerte Individualverkehr eine groteske Verschleuderung von Energie und außerdem noch eine gefährliche Schädigung der Ökologie bedeutet, wird von immer weiteren Kreisen erkannt und im Prinzip selbst von der Kraftfahrzeugindustrie kaum noch bestritten. Hätte das westliche System einem nicht ganz so ineffizienten wie dem realexistierenden Sozialismus gegenübergestanden, hätten gewiß Agrar- und Verkehrssystem genügt, es konkurrenzunfähig zu machen. Nur - es gab keine Konkurrenz.
Doch die Uhr läuft, und in der Freude über das Straucheln des Konkurrenten drohen wir die Zeit zu verpassen.
Die Einsicht in die Notwendigkeit der Kontrolle politischer Macht hat in den realsozialistischen "Volksdemokratien" dazu geführt, daß die Volksmacht durch das Stasisystem kontrolliert wurde. Eine konsequente Perversion des Gedankens "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser". Beängstigend, zu sehen, wie gut sie funktioniert hat.
Doch läuft bei uns die Entwicklung konsequent in die Gegenrichtung? Das Prinzip der Kontrolle durch "checks and balances" ist in den westlichen Systemen doch ebenfalls in beängstigendem Maße gefährdet. Daß die Parlamentsmehrheiten die Regierung nicht mehr kontrollieren, ist uns schon lange zur Gewohnheit geworden. Daß die Opposition auch kaum noch kontrolliert, sondern weitgehend durch vielerlei Rücksichten eingebunden ist, hat in dem Wort Parteienherrschafr sinnfälligen Ausdruck gefunden. Doch auch die Medien sind entweder direkt durch Parteienkontrolle oder indirekt durch ihre Verschwisterung mit der Macht nur noch beschränkt zur Kontrolle imstande. Dennoch wurde die Chance, im Zuge der Einigung Deutschlands Bewegung in die verfestigte Medienlandschaft zu bringen, nicht genutzt. Der Fall Mühlfenzel ist nur ein besonders trauriger Beleg dafür. Doch hat Mühlfenzel noch den Vorwand, es gelte, totalitäre Institutionen zu demokratisieren, wenn er interne Kritiker seines Konzepts einfach entläßt. Doch auch die neu geschaffenen Publikationsorgane der DDR-Opposition stehen kurz vor dem Ruin, und nur wenige "Spinner" versuchen sie zu unterstützen. Dabei käme es bei der datentechnischen Erfassung unserer Gesellschaft umso mehr darauf an, jede mögliche Vielfalt zu bewahren, als die Zentrale immer mehr Einblick und damit Steuerungsmöglichkeiten gewinnt. Wenn in der Tat die Mißachtung der Gebote der Wirtschaftlichkeit und die Beseitigung der gesellschaftlichen Kontrolle des Staates zum Zusammenbruch des sozialistischen Systems geführt haben, so bedeutet das äußerste Alarmstufe für uns; denn Wirtschaftlichkeit und Machtkontrolle werden bei uns weithin vernachlässigt.
Eine groteske Vernachlässigung der Wirtschaftlichkeit stellt die Förderung des privaten Automobilverkehrs dar. Die kostenlos zur Verfügung gestellten Verkehrswege und die weit unter Preis angebotenen Parkflächen (man vergleiche Ladenmieten und Parkgebühren in der Innenstadt von Großstädten) bedeuten eine Subventionierung von Umweltverschmutzung (Ozonsmog, Waldsterben, Treibhauseffekt) und fahrlässiger Körperverletzung und Tötung, deren volkswirtschaftliche (bzw. beim Treibhauseffekt weltwirtschaftliche) Kosten (z.B. Krankenhauskosten, Renten, Produktionsausfall) das Defizit der Bundesbahn um ein Mehrfaches übersteigen.
Zu Wirtschaftlichkeit führt der Markt nur, wenn sich die Knappheit der Güter auch in den Preisen niederschlägt. Das ist aber bei Erdöl, bei vielen Rohstoffen und zum Beispiel bei Wasser- und Energiekosten nicht der Fall. Bei Erdöl und Rohstoffen werden nur die Förder- und Verteilkosten plus eine schöne Profitspanne für die Oligopolisten bezahlt. Die weltwirtschaftliche Knappheit in zehn, zwanzig Jahren kommt bei der Preisbildung noch nicht zur Geltung. Wasser- und Energiekosten werden subventioniert. Die Umweltschädigungen durch die Verbraucher gehen nur zu einem geringen Teil in den Preis ein. Die Kosten wird die Allgemeinheit in einigen Jahren zahlen. Dann sind die Profite bereits privatisiert. Es ist hohe Zeit für eine Gegenstrategie. Wie soll die aussehen?
Das marktwirtschaftliche Prinzip und das Prinzip der Gewinnmaximierung haben sich als bessere Steuerungsinstrumente erwiesen als der zentrale Plan. Sie sind beizubehalten. Nur darf man nicht glauben, sie wären auch geeignet, den Kurs zu bestimmen. Das wäre so, als wollte man auf dem Schiff das Steuer aus der Hand geben und sich darauf verlassen, daß das Steuer den richtigen Kurs schon anzugeben wisse.
Der einzelne Betrieb soll nach dem Prinzip der Gewinnmaximierung handeln. Die Gesellschaft muß sich Versorgung der Bevölkerung bei möglichst niedrigem Unfallrisiko und möglichst niedriger Belastung der Umwelt zum Ziele setzen.
Wenn diese Vorgaben gemacht werden, wird das marktwirtschaftliche Prinzip richtig steuern. Daß unsere Industrie anpassungsfähig ist, hat sie schon hundertmal bewiesen. Phosphatfreie Waschmittel und Katalysatorautos sind nur umweltfreundliche Beispiele für etwas, was ständig geschieht: Produktentwicklung, um gegenüber dem Konkurrenten bestehen zu können. Jetzt heißt es nur dafür zu sorgen, daß das umweltfreundlichere Produkt auch das gewinnträchtigere ist. Dafür sorgen können Verbraucher und Staat. Sie müssen es nur wollen.
Natürlich ist es für den Unternehmer bequemer, sich nicht umzustellen. Aber das ist die Bequemlichkeit, die sich nur der Monopolist leisten kann. Marktwirtschaftlich ist sie nicht gewollt.
Marktwirtschaft kann mehr, als ihr gegenwärtig abverlangt wird. Es wird hohe Zeit, daß wir es ihr abverlangen. Sonst könnte es zu spät sein. (3.12.1990)

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