Montag, 25. November 2019

Angeeignete Stimmen

Afrikanische Musik: Geraubte Stimmen Von Ronald Radano
Vor dem Ersten Weltkrieg nahmen Feldforscher in den deutschen Kolonien rund 2500 Wachswalzen mit afrikanischer Musik auf. Von Historikern kaum beachtet, liegen die Tonträger seither im Berliner Phonogramm-Archiv. Gespeichert ist auf ihnen mehr als nur Gesang. [...]

"Die beiden "Schönen", wie Weule sie nennt, ein Geograf, Philologe und Mitarbeiter des Berliner Museums für Völkerkunde, seien an den Trichter des Phonographen herangetreten [...] Zuerst habe die eine "vor dem Apparat einen tadellosen Hofknicks" gemacht und gesprochen: "Kwa heri, sauti yangu, Lebe wohl, meine Stimme!" Sodann habe die andere die Prozedur wiederholt. [...]"
https://www.zeit.de/2019/48/afrikanische-musik-kolonialzeit-wachswalzen-aufnahmen-karl-weule/komplettansicht

Für mich schwingt in dem "Lebe wohl, meine Stimme!" etwas von Benjamins "Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit" mit und - deutlich weniger -von "Open Source". Denn es wird ja nicht freiwillig und bewusst eine Lizenz zur Weiterverwendung gegeben.
Aber aus der deutschen Fassung der afrikanische Aussage lässt sich zweierlei herauslesen: Der Verlust der Aura und der Abschiedssegen vor der Reise in die ferne Welt, fern durch Raum und Zeit.
Radano bemüht sich, den Indigenen gerecht zu werden, indem er die kolonialisierenden Weißen kritisiert. Aber die historisch erstmalige Situation, dass diese Stimmen über Zeit und Raum hinweg (natürlich unter Verlust eines erheblichen Anteils ihrer Authentizität!) transportiert werden können und dass dies - aufgrund der damaligen technischen Gegebenheiten - nur über die Ausrichtung der Stimme auf den Schalltrichter möglich war, stellt er zwar dar, bringt es aber nicht zur Sprache.
Wie der einmal der Fall, dass uns ein historischer Vorgang aufgrund seines zeitlichen Abstands unsere Gegenwart besser verstehen lehrt. 
Ronald Radano hat ja Recht, aber die unberechtigte Aneignung wird zum Geschenk für die Nachwelt. Der "Stimmenraub" ist wie eine Verfremdung der archäologischen "Grabräuber", denen wir so viel unserer Kenntnis der Vorgeschichte und Selbsterkenntnis unser eigenen Zeit verdanken.



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