Montag, 17. August 2015

Erich Mühsams Tagebücher von 1910-1924 und Links zu Tagebüchern von Dürer bis Harry Graf Kessler

Erich Mühsam:

1910

Château d'Oex la Soldanelle, 22. August 1910, Montag.

Bei strömendem Regen war ich eben unten im Dorf, um mir dies Heft zu kaufen. Es soll mein Tagebuch sein. Ich glaube kaum, daß ich es in der Art führen werde wie damals im Gefängnis. [Fußnote] Dazu gibt's hier bei aller Beschäftigungslosigkeit und bei aller Langeweile zuviel zu tun; dazu habe ich auch hier bei aller Zeitbindung und bei aller Willensbeschränkung noch immer zuviel Freiheit. Ich werde schwerlich jeden Tag zu Eintragungen kommen – und jedenfalls kaum je zu ausführlichen. So werde ich mich also einrichten müssen.
Daß ich hier bin, ist merkwürdig genug. Eine Sanatoriumskur hielt ich schon während des Prozesses (22. bis 25. Juni) und vorher für nötig. Im Juli mußte ich noch erst für die zweite Monatshälfte nach Frankfurt ans Cabaret; nach acht Tagen mit Krach fort. Dann Berlin, wo ich sämtliche Geschwister traf. Unterzeichnung eines ärgerlichen Familienkontraktes in der großväterlichen Erbschaftsangelegenheit. (Ich sage zu allem »Ja«, bis sich eines Tages die Achse dreht.) Papa, [Fußnote] der im April einen schweren Herzschwächeanfall hatte und zur Rekonvaleszenz nach Kudowa Kurort in Niederschlesien. geschickt war, kam über Berlin zurück. Mehrere Tage dort mit ihm zusammen. Für beide Teile gleich qualvoll. Immer wieder die gleiche Taktik: Wir vermeiden Anstößiges, wir vermeiden, miteinander allein zu sein, wir gehen vorsichtig umeinander herum. Er sucht manchmal Gelegenheit zu spitzen Anzüglichkeiten. Ich halte das Maul.

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