"In dem 30 Jahre währenden Konflikt in der Region wurden geschätzte 70.000 Menschen getötet, Zivilisten genauso wie Milizionäre und Sicherheitskräfte. Tausende sind "verschwunden", Zehntausende haben die Folterkammern durchlaufen, die das Tal wie ein Netzwerk von kleinen Abu Ghraibs überziehen. Hunderte Teenager haben allein in den letzten Jahren ihr Augenlicht durch die Gummigeschosse verloren, die für das Sicherheits-Establishment inzwischen das Mittel der Wahl darstellen, wenn es um die Kontrolle von demonstrierenden Menschenmengen geht. [...]
Am 5. August verstieß die Regierung einseitig gegen die Grundbedingungen des Beitrittsabkommens von 1947, mit dem sich der ehemalige Fürstenstaat Jammu und Kaschmir Indien angeschlossen hat.
Indiens Innenminister stellte im Parlament den Antrag, Artikel 370 der indischen Verfassung zu streichen, jenen Artikel, der festlegt, welche rechtlichen Verpflichtungen das Beitrittsabkommen für Indien mit sich bringt. Die Opposition fügte sich. Am nächsten Abend hatten sowohl das Oberhaus wie auch das Unterhaus den "Jammu and Kashmir Reorganization Act 2019" verabschiedet. Das Gesetz teilt den Bundesstaat in zwei Teile und nimmt der Region Jammu und Kaschmir ihren Sonderstatus – und damit das Recht auf eine eigene Verfassung und eine eigene Flagge. Indiens Bürger können fortan in ihrem neuen Herrschaftsbereich Land kaufen und sich dort niederlassen. Indiens reichster Industrieller, Mukesh Ambani von Reliance Industries, hat bereits mehrere "Offerten" in Aussicht gestellt. Man mag sich kaum vorstellen, was dies für die fragile Umwelt der Himalaya-Region von Ladakh und Kaschmir bedeuten mag, für das Land der riesigen Gletscher, der Bergseen und von fünf großen Flüssen. [...]
Gefahr wird aus vielen Richtungen kommen. Indiens einflussreichste Organisation ist die rechtsextreme hindu-nationalistische Organisation RSS (Rashtriya Swayamsevak Sangh, "Nationale Freiwilligenorganisation"). Zu den über 600.000 Mitgliedern zählen Narendra Modi und viele seiner Minister. Der RSS verfügt über eine trainierte Miliz, inspiriert von Mussolinis Schwarzhemden. Mit jedem neuen Tag bekommt der RSS alle Institutionen des indischen Staats fester in den Griff. In Wahrheit hat er den Punkt erreicht, wo er mehr oder weniger der Staat ist.
Die traditionellen Feinde des RSS sind Muslime, Christen und Kommunisten. Intellektuelle und Akademiker gelten auch als große Bedrohung.
Am 1. August wurde das ohnehin bereits drakonische "Gesetz zur Verhinderung gesetzeswidriger Aktivitäten" so ausgeweitet, dass als "terroristisch" künftig nicht nur Organisationen, sondern auch einzelne Personen gelten können. Der Zusatz erlaubt es der Regierung, jede beliebige Person ohne rechtsstaatliches Verfahren als Terroristen einzustufen. Welche Art Leute nun ins Visier rücken, wurde deutlich, als unser unheimlicher Innenminister Amit Shah im Parlament erklärte: "Es sind nicht Waffen, die den Terrorismus verursachen, die Wurzel des Terrorismus ist vielmehr die Propaganda, die zu seiner Verbreitung betrieben wird ... Und ich glaube nicht, dass ein Mitglied des Parlaments ein Problem damit hätte, wenn alle solchen Individuen zu Terroristen erklärt würden."
Mehrere von uns fühlten, wie uns seine kalten Augen direkt ansahen. Zu wissen, dass er in seinem Heimatstaat Gujarat als Hauptangeklagter in einer Reihe von Mordfällen im Gefängnis gesessen hat, machte die Sache nicht besser. Richter Brijgopal Harkishen Loya starb während des Verfahrens gegen Shah auf rätselhafte Weise, sein Nachfolger sprach Shah sehr rasch frei. [...]
"[...]
Wir sprachen über das neue Phänomen, dass Mobs Leute einkreisen, besonders Muslime, und sie zwingen, "Jai Shri Ram!" ("Sieg Lord Ram!", eine religiöse Hindu-Parole) zu rufen. Wenn Kaschmir von Sicherheitskräften besetzt ist, ist Indien vom Mob besetzt.
Der Freund sagte, er habe auch darüber nachgedacht, denn er fahre häufig auf der Autobahn aus Delhi heraus zu seiner Familie, die einige Stunden entfernt lebt. "Ich könnte ohne Weiteres angehalten werden", sagte er. "Dann musst du es rufen", sagte ich. "Du musst überleben." – "Das werde ich nicht", sagte er, "denn sie werden mich so oder so töten. Das haben sie auch mit Tabrez Ansari getan" – einem jungen Muslim, der im Juni gelyncht wurde.
Solche Gespräche führen wir in Indien, während wir darauf warten, dass Kaschmir sprechen wird. Und sprechen wird es ganz sicher.
(Arundhati Roy: Paradies unter Hausarrest ZEIT Nr.35, 22.8.2019, S.6)
Den Kaschmirkonflikt kenne ich seit knapp 40 Jahren. In den Medien ist er - wie der Subkontinent Indien im Vergleich zu China überhaupt - in erstaunlichem Maße aus dem Blick geraten. (Leider auch bei mir.) Roy leistet also einen wichtigen Beitrag, dafür dass bei uns im Westen wieder besser bemerkt wird. Und sie tut es unter großem persönlichen Risiko.
Man kann nur hoffen, dass ihre Bekanntheit sie schützt.
Auch über den Jemenkrieg erfahren wir zu wenig. Das liegt aber nicht an fehlendem Einsatz der Medien, sondern an aktivem Bemühen der Kriegsparteien, Informationen nicht aus dem Land zu lassen.
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