Samstag, 28. März 2015

Osterhammel: Weltgeschichte 1850-1880 (Textausschnitte)

Die Welt 1850-1880 (in: Jürgen Osterhammel: Informationen zur politischen Bildung Nr.315)

Die großen Bürgerkriege und ihre Folgen: USA und China

[...] Der nordamerikanische Sezessionskrieg (1861-65) und die Taiping-Revolution in China (1850-64) waren mit großem Abstand die blutigsten Konflikte der Epoche. Der Amerikanische Bürgerkrieg forderte vermutlich 620 000 militärische Tote, die indirekten Opfer nicht gerechnet. Die Taiping-Revolution verwüstete ganze Landstriche auf Jahrzehnte hinaus; die Gesamtzahl der durch sie verursachten Todesfälle könnte – es sind nur grobe Schätzungen möglich – etwa 30 Millionen erreicht haben. [...]
Als im November 1860 der Republikaner Abraham Lincoln (1809-1865), ein Gegner der Sklaverei (wenngleich keiner der radikalsten), zum Präsidenten gewählt wurde, nahmen dies die Extremisten in den Sklavenstaaten zum Anlass, den Austritt des Südens aus der Union zu erklären (daher „Sezession“). Wenig später proklamierten sie einen eigenen souveränen Staat, die Confederate States of AmericaDer agrarische Süden war dem teilweise industrialisierten Norden an Ressourcen weit unterlegen. Niemals war es denkbar, dass er den Norden besiegt hätte. Die zuweilen brillante südliche Kriegführung hätte aber möglicherweise ein Patt erzwingen können und damit eine Teilung des nordamerikanischen Kontinents in drei Großstaaten herbeigeführt: Kanada (damals noch eine Ansammlung britischer Kolonien), die USA und die Konföderation. Dem stand Lincolns Wille entgegen, die Vereinigten Staaten in ihrer bestehenden Form um jeden Preis zu erhalten. Als während des Krieges im Norden die Stimmung gegen die Sklaverei stieg, setzte Lincoln seine moralische Ablehnung der Sklaverei in Politik um und proklamierte eine allgemeine Sklavenbefreiung zum 1. Januar 1863. (S.47)
Nun wurde das Ende der Sklaverei zu einem offiziellen Kriegsziel des Nordens. Freie Schwarze und befreite Sklaven schlossen sich den Unionsarmeen an. Jedem, auch im Ausland,/ wurde klar, dass zwei unvereinbare Gesellschaftsordnungen gegeneinander kämpften. Die Kapitulation der Konföderation im Mai 1865 stärkte weltweit liberale und demokratische Strömungen. (S.47/48)
Auch in China erhob sich, geografisch gesehen, der Süden gegen den Norden. [...] Die Bewegung der Taiping, die ein „Himmlisches Reich des Großen Friedens“ (chin.: Taiping tianguo) errichten wollte, entstand aus der Anhängerschaft des religiösen Propheten Hong Xiuquan (1814-1864) [...]. Hong konnte nur deshalb seine frühe Gefolgschaft zu einer riesigen Armee ausweiten, weil es damals in China viel Anlass für sozialen Protest gab, vor allem eine Wirtschaftskrise als Folge des Opiumkrieges (1840-42) und der beginnenden „Öffnung“ Chinas. [...]
Die kaiserliche Ordnung überlebte, allerdings nachhaltig geschwächt. Reformen, die in der Nach-Taiping-Zeit eingeleitet wurden, blieben zaghaft und vermochten China gegenüber den imperialistischen Mächten nicht nachhaltig zu stärken. (S.48)

Defensive Modernisierung: Japan 

Japan war seit dem frühen 17. Jahrhundert ein Land, das sich, begünstigt durch seine Insellage, von der Außenwelt noch viel gründlicher abschottete als China. Man war über Kontakte mit Niederländern, die als einzige Europäer in begrenztem Umfang Schiffe nach Japan schicken durften, im Groben über Europa und das Vordringen der europäischen Kolonialmächte in Asien unterrichtet. Die japanische Elite, bestehend aus dem obersten Militärherrn (dem Shogun), etwa 250 Territorialfürsten und deren Kriegern und Verwaltern (den Samurai), hatte jedoch keine Strategie zur Hand, als die USA 1853 auf der Öffnung Japans für westliche Diplomaten und Kaufleute beharrten. Während der folgenden 15 Jahre begannen Großbritannien und die USA mit dem Aufbau einer politischen und wirtschaftlichen Repräsentanz im Inselreich. Zugleich rang die japanische Elite um eine Antwort auf die westliche Herausforderung.
1868 beseitigte ein nahezu unblutiger Putsch von jungen Vertretern der Feudalaristokratie aus südlichen Landesteilen die seit einem Vierteljahrtausend bestehende Herrschaft der Shogune. Stattdessen wurde die längst zum Ornament degradierte Institution des Kaisers wiederbelebt. Fortan regierte eine kleine Oligarchie im Namen des Monarchen. Diese Meiji-Restauration oder Meiji-Erneuerung, wie sie in Japan genannt wird, war in Wirklichkeit eine Revolution „von oben“. [...] In den Jahren nach 1868 wurde das Land dem radikalsten Sozialexperiment des 19. Jahrhunderts unterzogen. Die alte Statushierarchie wurde abgeschafft, darunter auch die privilegierte Gruppe der Samurai, aus der die Oligarchen selbst stammten. [...] Japan wurde politisch vollkommen umorganisiert. [...] Japan verwandelte sich in ein unitarisches Land ohne den in Deutschland bewahrten Föderalismus. [...] Die Staatsfinanzen und die Währung wurden nach den Gepflogenheiten moderner Industriegesellschaften organisiert. Der Staat gab sogar – was in Europa sehr selten geschah – den Anstoß zu Industrialisierungsprojekten. Da Japan sich davor hütete, durch Anleihen vom Ausland abhängig zu werden (wie es gleichzeitig in China und im Osmanischen Reich geschah), lag die Last der Finanzierung der neuen Industrie auf der Bauernschaft, der extrem harte Steuern aufgebürdet wurden. 


Musterkolonie Indien und informeller Imperialismus in China 

[...] Vom kontinentalen Amerika [...] war europäische Kolonialherrschaft weitgehend verschwunden. Sie hielt sich noch auf den karibischen Inseln (mit Ausnahme des seit 1804 unabhängigen Haiti), deren weltwirtschaftliche Bedeutung dank der Abschaffung der Sklaverei jedoch zurückgegangen war. Allein Kuba, wo Sklaverei bis 1886 legal blieb, war eine exportorientierte Plantagenökonomie. [...]
Unter allen europäischen Imperien war das britische dadurch einzigartig, dass es in mehreren Kolonien Bevölkerungsmehrheiten europäischer Siedler gab, während die Einheimischen, ähnlich wie in den USA, militärisch besiegt, verfolgt und zurückgedrängt wurden. Dies galt außer für Kanada auch für Australien sowie Neuseeland, das seit 1840 zum British Empire gehörte. Diese Länder nannte man bald nicht mehr „Kolonien“, sondern Dominions, Herrschaftsgebiete, in denen die britische Krone ihre Kontrolle zunehmend auf Militär, Außenpolitik und (teilweise) Finanzen beschränkte. Ansonsten waren diese Länder nicht in die autoritäre Kommandostruktur der Kolonialverwaltung einbezogen. Sie regierten sich im Wesentlichen selbst und hatten Regierungen, die nach britischem Muster demokratisch gewählten Parlamenten verantwortlich waren. [...] (S.50) Kanada, Australien und Neuseeland blieben Teile des British Empire, waren aber am Vorabend des Ersten Weltkriegs in vieler Hinsicht zu selbstständigen Nationalstaaten geworden.
Auch im französischen Kolonialreich verlagerte sich der geografische Schwerpunkt. [...] Ein Neuaufbau eines französischen Kolonialreichs begann erst 1830 mit der brutalen Eroberung Algeriens, die um die Mitte des Jahrhunderts abgeschlossen war. Infolge einer umfangreichen Einwanderung aus Frankreich, Spanien und Italien war Algerien um 1870 zu einer Siedlerkolonie geworden. Anders als etwa in Australien bildeten hier die Einheimischen aber weiterhin eine Bevölkerungsmehrheit [...]. Algerien war fortan Frankreichs wichtigste Kolonie; es erhielt sogar den Sonderstatus, administrativ ein Teil des Mutterlandes zu sein. In Asien begann ein französisches Engagement 1862 mit der Eroberung von Saigon. Bis 1890 hatten die Franzosen ihre Kontrolle auf ganz Vietnam bis hoch zur chinesischen Grenze ausgedehnt.
Niederländisch-Ostindien (das heutige Indonesien) war ein Überrest aus Hollands goldenem Zeitalter als führende Welthandelsnation [...]. Im 19. Jahrhundert fehlten den Niederlanden die Machtmittel für eine aggressive Kolonialpolitik. Sie dehnten ihr Kolonialreich nicht weiter aus. [...]
Die bevölkerungsreichste und wirtschaftlich wie politisch wichtigste Kolonie von allen wurde Britisch-Indien. Es war das schiere Gegenteil einer Siedlungskolonie. Europäisch geführte Farmen oder Plantagen spielten hier (abgesehen von Teepflanzungen im nordöstlichen Assam) keine nennenswerte Rolle. Die Regierungsform kann man als despotisch-bürokratisch bezeichnen. Ein mächtiger Generalgouverneur bzw. Vizekönig stand an der Spitze einer bürokratischen Hie-rarchie, die aus gut ausgebildeten und sorgfältig rekrutierten Elitebeamten bestand. [...] Inder waren von den politischen Entscheidungen über ihr eigenes Schicksal ausgeschlossen. In Nischen des riesigen Landes ließen die Briten weiterhin rund 500 Fürsten gewähren, sorgten aber in diesem „System indirekter Herrschaft“ dafür, dass sie zu keiner militärischen Gefahr für die Kolonialmacht werden konnten. (S.51)
Indien war für die Briten in mehrfacher Hinsicht von größtem Interesse: Es war ein Prestigeprojekt, der führenden Weltmacht würdig. Es war ein großer Absatzmarkt für die Produkte der britischen Industrie, zuerst Baumwolltextilien, später Eisenbahnen. Es besaß eine bäuerliche Landwirtschaft, die sich derart besteuern ließ, dass sich die Kolonialherrschaft selbst finanzierte und zudem erhebliche Überschüsse in britische Kassen flossen. Und es konnte als ein gewaltiges Reservoir für tüchtige Soldaten dienen. Schon während der Eroberungsphase hatten diese die Mehrheit in der indischen Armee gebildet. Im späten 19. Jahrhundert wurden sie als imperiale Elitetruppen im gesamten Weltreich eingesetzt.

Genau diese indischen Truppen stürzten 1857 die britische Herrschaft in ihre größte Krise im 19. Jahrhundert. [...] Vorübergehend stand die britische Herrschaft über Indien auf Messers Schneide. Schließlich konnten sich die Briten gegen die Aufständischen [...] militärisch durchsetzen. In den Jahrzehnten nach diesem „Großen Aufstand“ war die britische Haltung gegenüber Indien von einem starken Misstrauen geprägt. Man verließ sich nunmehr auf besondere Truppenteile, etwa die loyalen Sikhs, und verzichtete darauf, durch modernisierende Reformen Unruhe in die indische Gesellschaft zu tragen. Die Kolonialherrschaft erstarrte [...].
Ein ganz anderes Modell der Expansion wurde in China angewendet. Obwohl der kaiserliche Staat seit dem frühen 19. Jahrhundert stark geschwächt war, den Opiumkrieg verloren und die Gefahr durch die Taiping nur knapp überstanden hatte, tat sich in China niemals ein Machtvakuum auf [...]. Schließlich zeigten schon früh mehrere Großmächte Interesse an der Erweiterung ihres Einflusses in China, sodass die Gefahr direkter Konflikte zwischen ihnen bestand. (S.52)

 [...] Die fremden Mächte sicherten sich das Recht der Niederlassung in den meisten von Chinas großen Städten (man nannte sie „Vertragshäfen“). Hongkong ganz im Süden und Shanghai an der mittelchinesischen Küste waren sogar regelrechte städtische Kolonien. Von diesen Stützpunkten aus konnten westliche Geschäftsleute den Handel mit dem Binnenland organisieren; [...]. Dieses System funktionierte bis 1895 so gut, dass eine Notwendigkeit von Kolonisierung indischen oder algerischen Typs nicht bestand. 

Kommunikationsrevolution und Standardisierung 

Im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts führten neue technische Systeme und neue länderübergreifende Institutionen dazu, dass die Welt zusammenrückte. Unter den technischen Systemen waren die wichtigsten die interkontinentale Dampfschifffahrt und die Telegrafie. [...] In manchen Verwendungen hielten sich Segelschiffe noch mehrere Jahrzehnte lang. Die schnellsten Segelschiffe aller Zeiten, die tea clippers, die frisch gepflückten Tee von Asien nach Europa brachten, verkehrten noch in den 1860er-Jahren. (S.53)

[...]  Bis 1880 war ein Dampfernetz entstanden, das Häfen auf allen Kontinenten verlässlich erreichbar machte. Ozeandampfer waren sicherer als Segelschiffe. [...] Erstmals gab es auch im Fernverkehr zu Wasser Fahrpläne. [...] In den 1850er-Jahren wurden die großen Städte Europas durch Telegrafenleitungen miteinander vernetzt. [...] 
Die letzte wichtige Lücke im globalen Netz wurde geschlossen, als 1903 das Transpazifikkabel zwischen San Francisco und Manila seinen Betrieb aufnahm. [...] Noch am Vorabend des Telegrafenverkehrs waren Briefe aus New York 14, aus Kapstadt 30, aus Kalkutta 35, aus Shanghai 56 und aus Sydney 70 Tage nach London unterwegs gewesen. Nun erreichte eine Kabelbotschaft um die halbe Welt ihren Empfänger innerhalb eines einzigen Tages. Telegrafenkommunikation war jedoch sehr teuer. [...] Von großer Bedeutung wurde sie für die Übermittlung von Aufträgen und Preisen im Welthandel, für Börsengeschäfte, Diplomatie, Militär sowie für die Nachrichtenagenturen [...]. Die Telegrafie war niemals imstande, große Datenmengen zu transportieren. [...] Insofern war die Telegrafie keine direkte Vorläuferin des Internet.
Telekommunikation verlangte Standardisierung. [...] Schon seit der Jahrhundertmitte wurde auf verschiedenen Ebenen erfolgreich nach Vereinheitlichungen gesucht. Eine solche Bildung großer Kommunikationsräume durch ausgehandelte Standardisierung charakterisierte zur gleichen Zeit auch andere Bereiche. Die nationalen Eisenbahnfahrpläne wurden allmählich in einen Europa-Fahrplan integriert. [...] Mitte der 1870er-Jahre hatte sich das metrische System weitgehend durchgesetzt; nur das British Empire betrachtete es mit Skepsis. Das Chaos regionaler und lokaler Zeitmessungen wurde 1884 auf der Internationalen Meridian-Konferenz in Washington beseitigt, als die Einteilung des Globus in Zeitzonen sowie eine internationale Datumsgrenze beschlossen wurden. Auf dem Gebiet des Rechts wurde es möglich, zu Übereinkünften zu gelangen, die Verträgen transnationale Gültigkeit verliehen, es also Gläubigern ermöglichten, ihre Schulden im Ausland einzutreiben. [...] Viele der Normierungen und Vereinheitlichungen, die noch heute selbstverständlich sind, gehen auf das dritte Viertel des 19. Jahrhunderts zurück.
Sie waren eng verbunden mit der Schaffung übernationaler Institutionen. Besonders wichtig war dabei der Freihandel, von Großbritannien als Pionier angeregt, der nach 1860 innerhalb weniger Jahre in fast ganz Europa eingeführt wurde. [...] Gegenüber asiatischen Staaten setzten die Briten den Freihandel mit Drohungen oder Waffengewalt durch und diktierten „ungleiche Verträge“, die einheimische Märkte ohne Zollschranken für westliche Produkte öffneten.
Eine weitere neuartige Institution in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen war der Goldstandard, ein Mechanismus zum Ausgleich von Währungsschwankungen. Damit war bis 1870 erstmals in der Geschichte ein umfassendes Weltwährungssystem geschaffen worden, dem sich vor dem Ende des Jahrhunderts mit Ausnahme Chinas alle großen Länder der Welt anschlossen. 


Die wissenschaftliche Grundlage für seine vereinfachte Darstellung der Weltgeschichte für Schüler hat Osterhammel 2009 in folgendem Werk gelegt:
Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts
  • Wie kann man Osterhammels Aussagen den Kategorien Zeit und Ort und/oder einigen der Panoramen und Themen seines wissenschaftlichen Werkes "Die Verwandlung der Welt" zuzuordnen.
  • Wie unterscheidet sich die Darstellungsweise?
  • Weshalb wählt er für Schüler eine Darstellungsweise, die so viel konventioneller ist als sein wissenschaftlicher Ansatz? 

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