Samstag, 14. März 2015

Osterhammel über Städte (Die Verwandlung der Welt)

Die Stadt als Normalität und Ausnahme
"Die einzelnen städtischen Kulturen haben ihr je besonderes Verständnis von 'Stadt' und Urbanität ausgebildet. Städte sind daher ein konzentrierter Ausdruck einer je besonderen Zivilisation, Orte, an denen die Kreativität von Gesellschaften am deutlichsten zum Ausdruck kommt." (S.356)
"Städte sind Knotenpunkte von Beziehungen und Verflechtungen. Sie organisieren ihr Umland. [...] Die Erinnerung an Städte ist das, was von vielen Zivilisationen nach ihrem Untergang im mythenbildenden Gedächtnis der Nachwelt haftet: Babylon, Athen, das Jerusalem des Ersten Tempels, das Bagdad der Kalifen, das Venedig der Dogen." (S.357)
"Auch im 19.Jahrhundert gab es noch mobile Städte [...], die den ambulanten Herrschaftssitzen im Europa des Frühmittelalters ähnelten. Erst mit der Gründung von Addis Abeba 1886 durch Kaiser Menelik II.. endete in Äthiopien eine jahrhundertelange Phase der beweglichen Hauptstadt [...]" (S.358) 

"Städtische Kulturen entstanden unabhängig voneinander auf allen Kontinenten mit Ausnahme Nordamerikas und Australiens." (S.359)

Tendenzen im 19. Jahrhundert
"Keines der etablierten Städtesysteme, ob in Europa, China oder Indien, war auf den großen Zustrom von Menschen in die Städte vorbereitet. Daher waren vor allem die frühen Wachstumsphasen Zeiten krisenhafter Anpassung. Ein Teil des Wachstums kanalisierte sich an den alten Systemen vorbei in neue Städte. Sozial, wenngleich nicht immer auch ästhetisch, am erfolgreichsten waren jene Regionen, in denen es gar keine alten Städte gab, vor allem der Mittlere und der Pazifische Westen der USA sowie Australien." (S.360)
"Erst im 19. Jahrhundert entstand ein Ausmaß an internationaler Vernetzung, das die größten Städte der Welt in einem Dauerkontakt miteinander verband. [...] Die Infrastrukturen von Städten wurden in einer historisch beispiellosen Weise ausgebaut. Urbane Architektur [...] hatte über die Jahrtausende hinweg im Wesentlichen aus Gebäuden bestanden. Nun wurden Straßen gepflastert, Hafenbecken ausgemauert, unterirdische Röhrensysteme für Abwässer und U-Bahnen gegraben und geklinkert, Eisenbahn- und Tramschienen verlegt, Straßenbeleuchtungen installiert. Neben den Hoch- trat der Tiefbau. [...] Der Infrastrukturausbau band ungeheure private und öffentliche Investitionen. Neben industriellen Anlagen bildete er die wichtigste Kapitalverwendung während der Industrialisierung." (S.362)
"Erst jetzt wurde städtischer Grundbesitz zu Vermögensanlage und Spekulationsobjekt. Land wurde nicht erst durch agrikulturelle Verwertung, sondern durch seine bloße Lage
wertvoll. [...] Bodenwerte konnten sich mit einer Geschwindigkeit vervielfältigen, die in produktiven Sektoren der Wirtschaft unvorstellbar war. [...] Erst im 19. Jahrhundert [...] wurde Stadtplanung als staatlich-kommunale Daueraufgabe verstanden. [...] Ein Nachlassen absolutistischer Reglementierung, breitere politische Repräsentation, neue Massenmedien und die Organisation von Interessengruppen und politischen Parteien in der städtischen Arena veränderten den Charakter lokaler Politik." (S.363)
"[...] erst das dynamische Geschichtsdenken des 19. Jahrhunderts konnte die große Stadt zur Pionierin des Fortschritts und zum eigentlichen Ort kultureller und politischer Kreativität erheben. [...] Die neue Wissenschaft der Soziologie war von Saint-Simon bis Simmel im Grunde eine Wissenschaft vom Leben der Großstadtmenschen, eher von 'Gesellschaft' als von 'Gemeinschaft'" (S.364)
"Im 19. Jahrhundert, so hat man oft gesagt, wurde die Stadt 'modern', und die 'Moderne' entstand in der Stadt. [...] Die heroische Moderne von Städten ist ein flüchtiger Moment von manchmal nur wenigen Jahrzehnten: eine Balance von Ordnung und Chaos, die Verbindung von Immigration und funktionierenden Technostrukturen, Öffnung von Räumen unstrukturierter Öffentlichkeit, Energetisierung in Nischen des Experimentellen. Der moderne Moment setzt eine gewisse Form der Stadt voraus, wie sie am Ende ihrer klassischen Epoche noch erkennbar war, auch den Gegensatz zum Nicht-Städtischen. In der Megalopolis der endlosen, diffusen, polyzentrischen 'Konurbationen' mittlerer Verdichtung fehlen die Binnen- und Außengrenzen. [...] Das urbane 19.Jahrhundert endet mit der Entformung der großen Städte. (S.365)

Urbanisierung und städtische Systeme
Stadt und Industrie
"Da es im 19. Jahrhundert fast überall auf der Welt städtische städtische Entwicklung gab, ist in dieser Epoche Urbanisierung* ein geographisch viel weiter verbreiteter Prozess als Industrialisierung: Städte wuchsen und verdichteten sich auch dort, wo Industrie nicht die treibende Kraft sein konnte." (S.366)
"Durch die Industrialisierung erhielt die Konzentration von Menschen in verdichteten städtischen Siedlungen eine neue Qualität. [...] In England wurden Industriekonzentrationen wie Manchester, Birmingham und Liverpool zu Riesenstädten,
doch in der zweiten Jahrhunderthälfte wuchsen in Großbritannien nicht diese Städte der Industriellen Revolution am schnellsten, sondern solche mit einem hohen Dienstleistungsangebot und außergewöhnlicher Fähigkeit zur Informationsverarbeitung im direkten Anwesenheitskontakt." (S.367)
"Ein Rundgang durch die Zentren von Städten wie London, Paris und Wien zeigt, dass sie
niemals Industriestädte waren. Dahinter verbarg sich im Gegenteil der Kampf, großstädtische Kultur nicht durch Industrie zerstören zu lassen.
Die emblematischen Metropolen des 19. Jahrhunderts schufen sich ihr fortdauerndes Erscheinungsbild mehr in der Abwehr der Industrialisierung als in der Hingabe an ihre Konsequenzen. Die im 20. Jahrhundert zu beobachtende Herausbildung von Riesenstädten ohne industrielle Basis (Lagos, Bangkok, Mexico City u. a.) sollte den Blick für die nur lose
Verklammerung von Urbanisierung und Industrialisierung weiter schärfen. Urbanisierung ist ein wahrhaft globaler Prozess, Industrialisierung ein sporadischer Vorgang 'ungleicher' Zentrumsbildung." (S.368)
Um 1800 war die "bevölkerungsreichste Stadt Amerikas [...] Mexico City (128 000), gefolgt von Rio de Janeiro (100 000), dem Zentralort des portugiesischen Amerika. Selbst um 1800 war der Norden Amerikas im Verhältnis zum damals noch kolonialen Süden urban zurückgeblieben. Die größte Stadt Nordamerikas war immer noch Philadelphia (69000), die
erste Hauptstadt der USA." (S.370)
"Von [...] numerischen Impressionen her gesehen, waren noch um 1800 China, Indien und Japan die dominierenden Stadtkulturen auf der Erde. [...] (S.370)

Stadtbevölkerungen: Ostasien und Europa
"Europa hatte um 1600 bereits einen etwas höheren Urbanisierungsgrad erreicht als China, wo die Proportion der Stadtbevölkerung seit tausend Jahren etwa gleich geblieben war. Chinesische Städte waren aber im Durchschnitt größer als europäische. [...] Um 1820 gab es in China 310 Städte mit mehr als 10 000 Einwohnern, in Europa um 1800 - ohne Russland - 364. Die Durchschnittsgröße betrug in China 48 000, in Europa 34 000 Einwohner." (S.371)
"Tokyo fiel im Übergang von der Tokugawa- zur Meiji-Zeit von mehr als einer Million auf 860000 Einwohner / 1875."(S.372/73)
"De Vries registriert eine weitere Besonderheit Europas im späten 19. Jahrhundert:
Hier wurde in einigen Ländern, vielleicht erstmals in der Geschichte überhaupt, die Schwelle überschritten, jenseits derer nicht Zuzug vom Lande oder aus dem Ausland, sondern natürliche Vermehrung in den Städten selbst die wichtigste Triebkraft der Urbanisierung bildete. (S.374)

Zwischen De-Urbanisierung und Superwachstum
"Überhaupt lässt sich vor 1800 in verschiedenen Teilen Europas De-Urbanisierung feststellen, etwa in Portugal, Spanien, Italien und den Niederlanden. Die Reduktion städtischen Lebens in Südeuropa war dabei Ausdruck einer allgemeinen Tendenz der Verlagerung des Schwerpunkts europäischer Stadtkultur nach Norden und zum Atlantik hin. Erst um 1840 wurden überall in Europa solche alten Tendenzen der Entstädterung gebrochen." (S.375)
"In Indien wuchs die Stadtbevölkerung zwischen 1800 und 1872 vermutlich nicht. Fast alle
großen Städte aus vor-britischer Zeit verloren Einwohner: Agra, Delhi, Varanasi, Patna und viele andere mehr. Die Briten hatten bei der Eroberung des Subkontinents zwischen 1765 und 1818, einzigartig in der Kolonialgeschichte, hochentwickelte städtische Systeme übernommen. In den Eroberungskriegen war manches an städtischer und Städte verbindender Infrastruktur zerstört worden, etwa die oft gerühmten Fernstraßen." (S.377)
Schrumpfen von Städten: "Isfahan, die glanzvolle Hauptstadt der SafavidenSchahs,
1700von 600000 Menschen bewohnt, war nach seiner Verwüstung durch eine afghanische Invasion 1722 noch 1800 mit 50000 Einwohnern ein Schatten seiner selbst. [...] Agra, die Hauptstadt der Mogulkaiser, erreichte nach dem Verfall des Reiches erst wieder um 1950 die Einwohnerzahl von einer halben Million, die es 1600 gehabt hatte. [...] Im Europa der frühen Neuzeit war städtischer Niedergang nichts Ungewöhnliches gewesen." (S.377)
"Venedig, Antwerpen, Sevilla, Leiden oder Tours besaßen 1850 weniger Einwohner als 1600. Rom hatte 1913 mit 600000 gerade etwas mehr als die Hälfte seiner antiken Dimension erreicht." (S.377/78) "Für nahezu ganz Europa begann eine Trendwende um 1850, als eine allgemeine Urbanisierung einsetzte, von der bis hin zum Schlusslicht Portugal alle Länder des Kontinents ergriffen wurden. Keine einzige bedeutende Großstadt Europas verlor danach noch Einwohner."
Superwachstum
"Es kann [...] nicht überraschen, dass im 19. Jahrhundert nirgendwo Städte schneller wuchsen als in Australien und den USA. Melbourne [...] war 1841 ein größeres Dorf mit 3500 Einwohnern. [...] 1901 wurde bereits die Marke von 500 000 Einwohnern überschritten. [...] Statistisch gesehen war Australien daher eine der am höchsten urbanisierten Regionen der Welt.
Das koloniale Nordamerika war eine eher ländliche Welt überschaubarer Kleinstädte gewesen, in denen von städtischer Anonymität noch keine Rede sein konnte. Nur wenige Städte - Boston, Philadelphia, New York, Newport oder Charleston (Virginia) - erreichten das Format einer damaligen englischen Provinzstadt. Der große Urbanisierungsschub in den USA kam erst nach 1830. Er dauerte etwa hundert Jahre. Seit 1930 hat sich der Anteil der Bevölkerung jedenfalls in Großstädten mit mehr als 100 000 Einwohnern nicht mehr nennenswert erhöht." (S.378) 
"Erst durch die Eisenbahn entstanden aus einzelnen Städten verbundene Städtesysteme. [...] Im Westen der USA trat ein solches System nach der Mitte des Jahrhunderts plötzlich auf. An seine Spitze setzte sich Chicago, das von 30 000 im Jahre 1850 auf 1 100 000 vierzig Jahre später explodierte. Chicago und andere Städte im Mittleren Westen entstanden - wie gleichzeitig die Städte Australiens - buchstäblich aus dem Nichts. Entlang einer nach Westen vorrückenden urban frontier wuchsen Städte nicht nach dem Modell Europas aus dem Land hervor, sondern wurden als Brückenköpfe des Handels vorgreifend gegründet [...]. Kalifornien war nie ein Tummelplatz von Cowboys und Indianern. Mangels dörflicher Grundstrukturen überschritt es bereits 1885 die Marke eines städtischen Bevölkerungsanteils von 50 Prozent - zu einer Zeit, als der durchschnittliche Wert für die ganzen USA bei 32 Prozent lag." (S.379)
"Insgesamt waren weltweit die Jahrzehnte nach 1850 der Höhepunkt des Zustroms in die großen Städte [...] . Nur in England und Schottland sowie in geringerem Ausmaß auch in Belgien, Sachsen und Frankreich war die Veränderung während der ersten Hälfte des Jahrhunderts größer als in der zweiten. In Dänemark und den Niederlanden ging der Anteil der städtischen Bevölkerung in dieser Zeit sogar zurück." (S.380)

* Aktuell zur Urbanisierung in China (besonder das Foto):
http://www.theguardian.com/world/2015/feb/16/china-mega-airport-symbol-flight-agriculture-urbanisation

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