Aristokraten im (gebremsten) Niedergang
"Seit 1908 haben die britischen Premierminister mit nur zwei Ausnahmen stets einen bürgerlichen Familienhintergrund gehabt." (S.1064)
Aristokratien haben ihre Vorzugsstellung, weil bei ihnen die Gewaltmittel konzentriert waren, immer wieder durch größere Verluste in Kriegen bezahlen müssen. "Koloniale Eroberung traf in der Neuzeit in den meisten Fällen auf Aristokratien." (S.1065) Sie wurden meist dezimiert und degradiert, aber gelegentlich auch "unter Fortsetzung ihrer physischen Existenz und symbolischen Auszeichnung in untergeordneter Position in größere Reichsverbände inkorporiert". (S.1065)
"Neben quantitativ sehr kleinen transnationalen Eliten wie dem hohen katholischen Klerus oder der jüdischen Hochfinanz war der Adel im 19. Jahrhundert das am stärksten international orientierte Segment europäischer Gesellschaften." (S.1066)
Die französische Gesellschaft war im 19. Jahrhundert sehr bürgerlich. Napoleons "Verdienstelite der Ehrenlegion" ließ sich leicht in republikanische Formen überführen. Der russische Adel war im 18. Jahrhundert noch stark vom Zaren abhängig, auch danach war er mehr eine Großgrundbesitzerschicht als ein Stand mit besonderen politischen Vorrechten. Der englische Adel war "die reichste Adelsklasse Europas, rechtlich vergleichsweise wenig privilegiert, aber an den Schaltstellen von Politik und Gesellschaft präsent. Erbrechtliche Primogenitur hielt die großen Vermögen verlässlich zusammen. [...] Der englische Adel hatte ein gesellschaftliches Ideal des gentleman entwickelt, das eine außerordentliche Integrationswirkung entfaltete" (S.1068) Diese "Homogenität von Lebensstil und Kultur" fehlte im übrigen europäischen Adel. Doch hatte auch der englische Adel sie nicht qua Geburt, vielmehr "musste der männliche Nachwuchs auf Eliteschulen und an den Universitäten Oxford und Cambridge zum gentleman sozialisiert werden." (S.1069) Das war eine "schichtenübergreifend bürgerlich-adlige Charakterformung - mit im Laufe des Jahrhunderts zunehmender militaristsch-imperialer Tendenz." (S.1069) Der Adel "war von keiner Krone abhängig [...] und erteilte sich selbst in vielen Bereichen der Gesellschaft Führungsaufgaben [...]. Deutlicher als anderswo war Adel in Großbritannien weniger ein genau fixierter Rechtsstatus als eine mentale Lage: das sichere Gefühl, den Ton anzugeben." (S.1069)
Um die Jahrhundertwende verlor der Adel "seine alte kulturelle Leitfunktion". "An die Stelle des aristokratischen Mäzenatentums [...] war ein marktwirtschaftlicher Kunstbetrieb getreten." (S.1070)
In Indien blieb über die britischen hohen Militär- und Verwaltungsposten eine recht stabile "Adelsdomäne" erhalten. "Eine dezidiert anti-fürstliche Politik wurde nach dem Großen Aufstand von 1857 aufgegeben. [...] die Maharajas und Nizame [...] dienten als Ornamente, mit denen sich der bürokratische Charakter des kolonialen Staates pittoresk verkleiden ließ. Eine ganz eigene und neue indische Nobilität wurde erfunden, an deren Spitze seit 1876 die ferne Queen Victoria als Kaiserin von Indien thronte." (S.1071)
In Japan "waren die Samurai dem europäischen Adel eng verwandt. Sie machten aber einen viel größeren Prozentsatz der Bevölkerung aus: im frühen 19. Jahrhundert etwa 5 bis 6 Prozent. [...] Der wichtigste Unterschied zum europäischen Adel lag in der Trennung der Samurai vom Land." (S.1073) "Der typische Samurai kontrollierte also keinen der drei Produktionsfaktoren [...] Daher waren die Samurai ein im Prinzip besonders verwundbarer Teil der japanischen Gesellschaft."(S.1074) Nach dem Sturz des Shogunats 1867/58 mussten die einzelnen Samurai für sich selber sorgen.
In China "gab es schon im 18. Jahrhundert einen weithin unbegrenzten Markt für Grund und Boden. [...] Die Gelehrtenbeamten besaßen die effektive Kontrolle über den größten Teil des landwirtschaftlich genutzten Bodens" (S.1075) Sie waren aber keine feste Schicht, weil ihr Status nicht vererbbar, sondern nur über das Bestehen der Staatsprüfungen erreichbar war. "Dass eine Familie einmal einen solchen Beamten am Hofe oder in der Provinzialverwaltung stellen würde, war das höchste Ziel, das sich in der rangbewussten Gesellschaft des kaiserlichen China erreichen ließ." (S.1075) Weil der "Beamtenapparat und die shensi-Schicht, auf welcher er sozial beruhte", sich im Umgang mit aggressiven Fremden auskannten, überstand er die erzwungene Öffnung durch die europäischen Mächte besser als das japanische System. "Der terminale Punkt für die shenshi war das Jahr 1905, das in etwa den Jahren 1790 für den französischen Adel, 1873 für die Samurai oder 1919 für den deutschen Adel vergleichbar wäre." (S.1078)
"In den USA und Australien wuchsen Gesellschaften heran, die in historisch neuartiger Weise adelsimmun waren." (S.1078)
(Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 2009)
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