Massenauswanderung und Globalisierungsschub
"[...] Unter „Globalisierung“ versteht man die gleichzeitige Zunahme von Interaktionsdichte und Interaktionsgeschwindigkeit über große Entfernungen hinweg, letztlich in planetarischem Umfang. Seit seinem Beginn im 16. Jahrhundert ist dieser Globalisierungsprozess durch eine Reihe von Schüben vorangebracht worden. Ein besonders wichtiger fand in den letzten drei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg statt. Von den technologischen Grundlagen in Verkehr und Telegrafie war bereits die Rede. In welchen anderen Formen zeigte sich die verstärkte Globalisierung um die Jahrhundertwende? [...]
Kollektive Wanderungen – auch Zwangswanderungen wie der atlantische Sklavenhandel – gehören zum Bild der gesamten Neuzeit. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erreichten sie quantitativ eine neue Dimension. Große Wanderungen zu Lande fanden im Zarenreich statt. Dort war 1861 die Bindung der Bauern an die „Scholle“ aufgehoben worden. Innerhalb der folgenden zehn Jahre strömten rund 13 Millionen Landbewohner in die Großstädte und Bergbaugebiete Russlands, wo in diesen Jahren die Industrialisierung begann. Umfangreicher und auffälliger waren die Atlantiküberquerungen.
Die europäische Auswanderung in die Neue Welt hatte in den 1820er-Jahren bedeutend zugenommen. Während des gesamten Zeitraums zwischen circa 1820 und 1930 (als die Weltwirtschaftskrise die Migrationsströme abbrechen ließ) überquerten 50 bis 55 Millionen Menschen den Atlantik, die meisten von ihnen, um sich in Amerika permanent anzusiedeln. Während desselben Zeitraums verließen ungefähr 42 bis 48 Millionen Inder und Südchinesen ihre dicht bevölkerten Heimatländer und suchten Arbeit in Südostasien (die Inder in Burma, die Chinesen in Indonesien), Afrika, der Karibik oder dem Westen der USA. Diese beiden Migrationssysteme, das atlantische und das asiatische, wurden in ähnlicher Weise von zwei Hauptfaktoren angetrieben: (1) der Flucht der Menschen vor Elend und – ganz besonders im Falle der jüdischen Auswanderer aus dem Zarenreich – vor Verfolgung sowie (2) den Beschäftigungsanreizen, die von boomenden Hochlohnsektoren in Übersee ausgingen. [..]
Die Aufteilung Afrikas
Die erstaunlichste Veränderung der politischen Landkarte nach 1880 erfolgte durch die koloniale Besetzung Afrikas. Zwischen 1881 und 1890 geriet der größte Teil des riesigen Kontinents unter europäische Kontrolle. Mit der Verwandlung des Königreichs Marokko in ein französisches Protektorat wurde diese Aufteilung Afrikas 1912 faktisch abgeschlossen. Nur Äthiopien, das 1896 einer italienischen Armee eine militärische Niederlage zugefügt hatte, und Liberia in Westafrika, seit 1847 als Zufluchtsort von Afro-Amerikanern eine unabhängige Republik, blieben von europäischer Herrschaft frei. [...]
Mit Soldaten, Administratoren und Kaufleuten kamen auch christliche Missionare, die in einigen Fällen als erste in unwegsame Landesteile vorstießen. Die christliche Mission war ein fester Bestandteil der europäischen Präsenz. Missionare äußerten sich aber auch zuweilen kritisch gegenüber den Exzessen europäischer Herrschaftsausübung. Sie brachten durch den Kampf gegen verbliebene Reste von Sklaverei, durch Missionsschulen, medizinische Versorgung und zuweilen durch eine Verbesserung der gesellschaftlichen Stellung von Frauen wichtige Elemente der Moderne nach Afrika. Andererseits war die Mission dort problematisch, wo sie Afrikaner zwangsweise ihren einheimischen Traditionen entfremdete, wo sie Familien trennte und Wohlfahrtsleistungen nur im Tausch für Bekehrung anbot. Das Christentum fasste in den außerislamischen Gebieten Afrikas viel fester Fuß als in Asien, wo es heute mit Ausnahme Südkoreas und der Philippinen nirgendwo eine große Rolle spielt. Im Afrika hingegen überlebte es vielfach die Kolonialzeit. [...]
Imperialismus in Ost- und Südostasien
Die Ausdehnung des europäischen Einflusses in Asien war weniger spektakulär als die Unterwerfung Afrikas. Zum einen gingen die Anfänge der Kolonialgeschichte einiger Gebiete Asiens bis in das späte 16. Jahrhundert zurück; zum anderen wurden einige Teile Asiens vor 1914 keiner europäischen Kolonialherrschaft unterworfen. Dazu gehörten die Türkei, die Levante, Arabien, Iran, Afghanistan, die inneren Provinzen Chinas, Siam (das heutige Thailand) und selbstverständlich Japan.
Abgesehen von Indien, wo die Briten keine Konkurrenz zu fürchten hatten, war Südostasien der am intensivsten kolonisierte Teil des Kontinents. [...]
In China herrscht bis heute eine verständliche Empörung über die „Schmach“, die dem Land von den imperialen Mächten im 19. Jahrhundert zugefügt wurde. Es muss dabei jedoch gesehen werden, dass die Einbindung Chinas in die Weltwirtschaft viel schwächer blieb als in den Fällen Indiens, Südostasiens oder Südafrikas. China war zu arm, um die Hoffnungen derjenigen im Westen erfüllen zu können, die in ihm einen gigantischen Absatzmarkt sahen. Nach dem Ende der Opiumimporte in den 1870er-Jahren hat es diese Funktion als Markt nie wieder gespielt. Auf der anderen Seite produzierte China – außerhalb der auf Japan hin umgepolten Mandschurei – sehr wenige weltmarkttaugliche Produkte. In mancher Hinsicht war seine Verwicklung in den globalen Handel in der frühen Neuzeit stärker gewesen. Denn seine klassischen Exportgüter verlor das Chinesische Kaiserreich an seine asiatischen Konkurrenten [...]
Der Aufstieg der USA zur Weltmacht
Kein anderer Vorgang auf der internationalen Bühne sollte solch weitreichende Konsequenzen haben wie der Aufstieg der USA nach dem Bürgerkrieg. Um 1870 waren die USA ein allgemein respektierter Koloss ohne größeren Einfluss auf das Weltgeschehen außerhalb des eigenen Kontinents. 1919, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, wurde erstmals der amerikanische Präsident, damals Woodrow Wilson, als der mächtigste Mann der Welt anerkannt, der der Friedensregelung für Europa und den Nahen Osten seinen Stempel aufdrückte. Während der fünf Jahrzehnte, die zwischen diesen Daten lagen, hatten die USA einen doppelten Aufstieg erlebt, wirtschaftlich und machtpolitisch. Dabei ging die ökonomische Erstarkung der politischen zeitlich voraus und war überhaupt deren Voraussetzung. Die USA waren ein Industrialisierer der zweiten Generation gewesen. Nun zogen sie an dem Pionier Großbritannien vorbei. [...]
Auf der Landenge von Panama sicherten sich die USA souveräne Rechte und gruben dort einen Kanal zwischen den Ozeanen, der 1914 eröffnet wurde. 1898 siegten sie in einem Krieg über Spanien und eigneten sich nach einem Krieg gegen eine nationale Unabhängigkeitsbewegung die ehemals spanische Kolonie der Philippinen an. Das bis dahin ebenfalls spanische Kuba wurde in der Folgezeit zu einer Art von Protektorat der USA. Die Vereinigten Staaten, selbst aus einem antikolonialen Befreiungskampf hervorgegangen, waren zu einer Kolonialmacht geworden. Ihre globalen Wirtschaftsinteressen gingen weit über das kleine Kolonialreich hinaus. Dass die USA einmal in einen europäischen Krieg eingreifen würden, war im Sommer 1914 freilich noch undenkbar. Spätestens 1917, als dies geschah, begann in einem weltpolitischen Sinne das 20. Jahrhundert.
Die wissenschaftliche Grundlage für seine vereinfachte Darstellung der Weltgeschichte für Schüler hat Osterhammel 2009 in folgendem Werk gelegt:
Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts
- Wie kann man Osterhammels Aussagen den Kategorien Zeit und Ort und/oder einigen der Panoramen und Themen seines wissenschaftlichen Werkes "Die Verwandlung der Welt" zuzuordnen.
- Wie unterscheidet sich die Darstellungsweise?
- Weshalb wählt er für Schüler eine Darstellungsweise, die so viel konventioneller ist als sein wissenschaftlicher Ansatz?
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