"'Wissen' ist eine besonders flüchtige Substanz. Als gesellschaftliche Größe, unterschieden von den verschiedenen Wissensbegriffen der Philosophie, ist es die Erfindung einer kaum hundert Jahre alten Wissenschaft, der Wissenssoziologie. Sie rückte das, was in der idealistischen Philosophie 'Geist' genannt worden war, in die Mitte der Gesellschaft, setzte es in Beziehung zu Lebenspraktiken und sozialen Lagen.
'Wissen' ist ein etwas enger gefasster Begriff als der alles umgreifende Begriff der 'Kultur'. [...] 'Wissen' bezieht sich in diesem Kapitel auf kognitive Ressourcen, die der Lösung von Problemen und der Bewältigung von Lebenssituationen in der realen Welt dienen. [...] Zumindest in Europa und Nordamerika kam damals ein rationalistisches und instrumentelles Verständnis von Wissen auf." (S.1105)
"Im 19. Jahrhundert wurde der alte Begriff der 'Wissenschaft' erstmals durch Aspekte angereichert, die wir heute fest mit ihm verbinden. Die Fächersystematik, wie sie immer noch verwendet wird, geht erst auf diese Epoche zurück. Moderne institutionelle Formen der Gewinnung und Verbreitung von Wissen wurden geschaffen: die Forschungsuniversität,
das Labor, das geisteswissenschaftliche Seminar. Die Beziehungen zwischen der Wissenschaft und ihren Anwendungen in Technik und Medizin wurden enger. Die Herausforderungen, die von der Wissenschaft für religiöse Weltbilder ausgingen, erhielten ein größeres Gewicht. Manche Disziplinbezeichnungen wie 'Biologie' - ein zuerst im Jahre 1800 verwendeter Terminus - oder 'Physik' setzten sich erst jetzt durch. Der 'Wissenschaftler' (auch dies ein neu geschaffenes Wort, in der englischen Fassung scientist 1834 geprägt) wurde zu einem eigenständigen sozialen Typus, der sich trotz mancher Überlappungen vom 'Gelehrten' oder 'Intellektuellen' (auch dies eine Neuschöpfung des
19. Jahrhunderts) unterschied." [...] Der Wissenschaftler sah sich als «Profi», als Fachmann auf einem klar umgrenzten Gebiet, den wenig mit dem wortkünstlerischen, eine breitere Öffentlichkeit ansprechenden, auch politisch engagierten «Intellektuellen» verband. Der Weg zu den «zwei Kulturen» war beschritten, und nur wenige Naturwissenschaftler wie Alexander von Humboldt, Rudolf Virchow oder Thomas H. Huxley suchten und fanden für ihre Ansichten zu außerwissenschaftlichen Fragen Gehör.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen sich Regierungen mehr denn je für Wissenschaft zu interessieren; Wissenschaftspolitik wurde zu einem neuen Zweig systematischer Staatstätigkeit. (S.1106)
Zunehmend sah auch die Große Industrie, etwa im Bereich der Chemie, naturwissen-/ schaftliche Forschung als ihre eigene Aufgabe an. (S.1106/07)
"Hatten im 17. und 18. Jahrhundert - bis hin zu Alexander von Humboldt [...] noch manche Heroen der «wissenschaftlichen Revolution» auf der materiellen Grundlage anderer Einkünfte für die Wissenschaft gelebt, so lebte man um 1910 von ihr. [...] Ebenso wie die moderne, auf der Nutzung fossiler Energie beruhende Industrie in Europa entstand, so auch die heute konkurrenzlos dominierende Wissenschaft. [...] (S.1107) Die Mathematik, die übrigens nach etwa 1875 auch zu einer wichtigen Ausdrucksweise der Wirtschaftswissenschaft wurde, und einige natürliche Sprachen von transkontinentaler Verbreitung garantierten die Mobilität / wissenschaftlichen Sinns. Sprachen sind aber selbstverständlich auch die wichtigsten Vehikel für viele andere Arten von Wissen weit über die organisierte Wissenschaft hinaus. (S.1107/08) Verbreitung und Benutzung von Sprachen sind schließlich auch ein feines Anzeichen für die sich ständig wandelnde Geographie politischer und kultureller Gewichtsverhältnisse. (S.1108)
Weltsprachen
"Um 1910 hatten sich die 'Weltsprachen' [...] in einem Muster über die Erde verteilt, das noch heute weithin gültig ist. Man muss dabei zwei Aspekte unterscheiden [...]. Es ist etwas anderes, ob eine Bevölkerungsmehrheit eine fremde Sprache als ihr wichtigstes
Kommunikationsmedium im Alltag übernimmt, [...] oder ob eine Sprache 'Fremd'-Sprache bleibt, dabei aber für gewisse funktionell bestimmte Zwecke verwendet wird: Handel, Gelehrsamkeit, religiösen Kultus, Verwaltung oder den transkulturellen Kontakt. Die Expansion von Sprachen wird durch politisch-militärische Reichsbildung erleichtert, ohne zwangsläufig aus ihr zu folgen. So verbreiteten sich in der frühen Neuzeit in Asien das Persische und das Portugiesische, ohne durch territoriale Kolonialherrschaft Portugals und des Irans getragen zu werden. [...] (S.1108) Portugiesisch hielt sich um den Indischen Ozean herum bis in die 1830er Jahre als Verkehrssprache einer multikulturellen Kaufmannskultur. (S.1108/09) [...] Bis ebenfalls in die 1830er Jahre spielte Persisch aber noch weiter seine alte Rolle als Verwaltungs- wie auch Händlersprache weit über die Grenzen des Irans hinaus. Beide, Portugiesisch wie Persisch, wurden danach durch das Englische abgelöst, das in Indien 1837 zur allein gültigen Sprache der Verwaltung erhoben und spätestens mit der Öffnung Chinas 1842 zum herrschenden nicht-chinesischen Idiom in den östlichen Meeren wurde. (S.1109)
"Die deutsche Sprache wurde nur in bescheidenem Ausmaß kolonial verbreitet [...]. Sie stärkte aber in der Folge der Reichsgründung von 1871 und des andauernden literarischen
und wissenschaftlichen Ansehens, das sie seit dem 18.Jahrhundert genoss, ihre Stellung in Ostmitteleuropa. Sie blieb Verwaltungssprache des Habsburgerreiches und gehörte bis zum Ende der Zarenzeit neben dem Französischen und dem Lateinischen zu den wichtigsten Sprachen, in denen die gelehrte Welt Russlands kommunizierte. [...] " (S.1109) "Das Russische expandierte in noch viel größerem Maße. Dies war eine unmittelbare Folge der zarischen Reichsbildung und / der kulturellen Russifizierung, die etwa seit der Mitte des
19. Jahrhunderts mit ihr verbunden war. Russisch war die einheitliche Amtssprache des Imperiums." (S.1109/10) "Anders als die ethnisch extrem heterogene Armee des Habsburgerreiches, bestand das zarische Militär überwiegend aus Russisch sprechenden Soldaten. [...] Vor allem in den baltischen Provinzen im Nordwesten und den muslimischen
Ländern im Süden drang das Russische nicht über die Kreise russischstämmiger Siedler und Verwaltungsbeamter hinaus.
Zu einer Zeit, als die Maßstäblichkeit der französischen Sprache unter den Gelehrten und Gebildeten Europas allmählich zurückging, nahm die Zahl der Französischsprecher im Kolonialreich zu. Daneben hielt sich die frankokanadische Sprachgruppe in der Provinz Quebec, die seit 1763 nicht mehr zum französischen Reich gehörte. [...] In den Staaten, die ehemals zu Frankreichs westafrikanischem Kolonialreich gehörten, ist Französisch heute durchweg Amtssprache (in Kamerun neben Englisch), auch wenn es im Alltagsleben von gerade einmal 8 Prozent der Bevölkerung benutzt werden dürfte. Haiti hält noch zweihundert Jahre nach seiner revolutionären Trennung von Frankreich an Französisch als offizieller Sprache fest." (S.1110)
"So gehörte Französisch seit 1834 zum Trainingsprogramm osmanischer Eliteoffiziere, und in Ägypten behauptete sich auch nach der britischen Okkupation von 1882 in der Oberschicht das Franzö-/sische." (S.1110/11)
"Der größte Globalisierungsgewinner unter den Sprachen war im 19. Jahrhundert das Englische. Schon um 1800 eine in ganz Europa respektierte Sprache der Geschäfte, der Dichtung und der Wissenschaften, [...] war es spätestens um 1920 zur kulturell maßgebenden und geographisch am weitesten verbreiteten Sprache der Welt geworden. Eine grobe Schätzung besagt, dass für den Zeitraum von 1750 bis 1900 bereits die Hälfte der «einflussreichen» Publikationen zu (Natur-)Wissenschaft und Technik auf Englisch erschienen. [...] In Indien und Ceylon verbreitete sich das Englische nicht durch
europäische Siedler und erst recht nicht als Folge einer rabiaten Anglisierungspolitik
der Kolonialmacht, sondern durch eine Verbindung von
kulturellem Prestige und konkreten Karrierevorteilen, die eine Beherrschung
des Englischen ratsam werden ließen. [...] Um die Vorzüge und Nachteile englischsprachiger Erziehung im Vergleich zu einer solchen in den indischen Sprachen war in den 1830er
Jahren zwischen 'Anglizisten' und 'Orientalisten' heftig gestritten worden. Die Anglizisten hatten sich 1835 auf der Ebene der großen Politik durchgesetzt, aber in der Praxis waren pragmatische Kompromisse möglich. Der britische Sprachexport nach Indien war zugleich auch ein freiwilliger Import durch indische Bürger und Intellektuelle" (S.1111)
"Im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreitete sich das Englische mit britischen Kolonialadministratoren und Missionaren in Südostasien und Afrika. Im pazifischen Raum (Philippinen, Hawaii) waren US-amerikanische Einflüsse maßgebend. [...]" (S,1112)
Sprachtransfer als Einbahnstraße
"Der chinesische Staat, der in der Qing-Zeit offiziell dreisprachig war (Chinesisch, Mandschurisch, Mongolisch), hatte niemals eine Notwendigkeit verspürt, das Studium europäischer Sprachen zu fördern. Paradoxerweise war dies einer der Gründe für die hohe linguistische Kompetenz der Jesuitenmissionare während der frühen Neuzeit. Viele von ihnen eigneten sich das Chinesische so gut an, dass sie als Dolmetscher in kaiserlichen Diensten bei den Kontakten mit diplomatischen Gesandtschaften aus Russland, Portugal, den Niederlanden und Großbritannien vermittelten. Da die Ex-Jesuiten, die nach der Aufhebung ihres Ordens in China verblieben, kein Englisch konnten, mussten die Äußerungen der englischen Gesandten bei der ersten diplomatischen Kontaktaufnahme 1793 zum Teil erst ins Lateinische übersetzt werden [...]. Als nach 1840 diplomatische Verhandlungen von ganz anderer Tragweite geführt werden mussten, gab es diese Vermittler nicht mehr. China fehlte zunächst jegliches sprachlich geschulte Personal" (S.1112) "Die Qing-Regierung nahm erst nach der Niederlage im Zweiten Opiumkrieg 1860 einen Kurswechsel vor. 1862 wurde in Peking die Übersetzerschule Tongwenguan gegründet [...]. Der wichtigste Transferkanal für Fremdsprachen aber wurden die Missionsschulen und Missionsuniversitäten. [...]
Nach 1800 wurde der japanischen Regierung erst allmählich klar, dass Niederländisch nicht die wichtigste Sprache Europas sei. Zunehmend wurde nun aus dem Russischen oder Englischen übersetzt. [...] Der neuerliche und intensivierte Import westlichen Wissens in der Meiji-Zeit wurde nur möglich, weil zusätzlich zur Anwerbung westlicher Experten nun systematisch Übersetzerkompetenz aufgebaut wurde." (S.1113)
"Europäische Fremdsprachen wurden im 19.Jahrhundert erst spät und sporadisch in den allgemeinen, staatlich verordneten Bildungskanon / nichteuropäischer Länder aufgenommen, die durchaus nicht selten selbst mehrsprachig waren, also etwa von Gebildeten Kenntnisse im Türkischen, Arabischen und Persischen verlangten. [...] Umgekehrt hat man in Europa niemals daran gedacht, eine nicht-okzidentale Sprache zur Ehre einer 'Schulsprache' zu erheben." (S.1114)
Sprachliche Hybridität: Pidgin
"Die Welt-Sprachen, verstanden als solche Sprachen, mit denen man sich auch außerhalb ihres jeweiligen Ursprungsgebietes verständigte, lagerten meist lose über einer Vielzahl von lokalen Sprachen und Dialekten. Sogar in Indien verstanden noch nach dem Ende der Kolonialzeit höchstens drei Prozent der Bevölkerung Englisch [...]. Vielfach erleichterten vereinfachte Mischformen die Kommunikation. [...] Nicht wenige PidginSprachen waren älter als der Kolonialismus. (S.1114)
Auch nachdem Latein 1713 als Diplomatensprache von Französisch abgelöst worden war, "benutzte man im östlichen Mittelmeer und in Algerien weiter die lingua franca (Sprache der Franken), eine Art von Pidgin-Italienisch. In anderen Teilen der Welt, etwa in der Karibik und in Westafrika, entwickelten sich Kreolsprachen zu eigenständigen Sprachsystemen." (S.1114)
"'Pidgin'-Englisch, / zunächst Canton jargon genannt, war in einem langsamen Prozess seit
etwa 1720 als Zweitsprache an der südchinesischen Küste entstanden." (S.1114/15)
"Wie in Indien auch, so bedeutete die anspruchsvolle Kommunikation in einer europäischen Sprache weniger die Unterwerfung unter einen linguistischen Imperialismus als einen wichtigen Schritt zu kultureller Anerkennung und Gleichberechtigung. Pidgin blieb eine Sprache der Geschäftswelt, die nach Westen orientierten Intellektuellen lernten richtiges
Englisch. In China hat sich Pidgin im 20. Jahrhundert nicht gehalten" (S.1115)
"Kolonialismus und Globalisierung schufen kosmopolitische Sprachordnungen. In der chinesischen Zivilisation, die ihre hochsprachliche Einheitlichkeit [...] nie verloren hatte, war dies eine weniger dramatische Veränderung als etwa dort, wo, wie in Südasien, in den Jahrhunderten davor lokale Sprachen auf Kosten einer übergreifenden Sprache, des Sanskrit, an Boden gewonnen hatten und nun auf der Elitenebene neue Reichweiten von Sinn entstanden. Das sprachlich fragmentierte Indien wurde durch Aneignung des Englischen kommunikativ neu geeint." (S.1116)
"Auch in Europa entstand sprachliche Homogenität innerhalb der Grenzen von Nationalstaaten oft erst im Laufe des 19. Jahrhunderts. Oberhalb einer Vielzahl regionaler Idiome wurde die Nationalsprache zur Idealnorm der Verständigung [...], aber sie wurde es nur langsam. Dies traf sogar auf das zentralistische Frankreich zu. 1790 hatte eine offizielle Untersuchung festgestellt, dass die Mehrheit der französischen Bevölkerung andere Sprachen als Französisch sprach [...]. Selbst 1893 sprach jedes achte Schulkind im Alter zwischen 7 und 14 Jahren überhaupt kein Französisch. Noch wesentlich divergenter waren die Verhältnisse in Italien. Dort verstanden in den 1860er Jahren weniger als zehn Prozent der Bevölkerung ohne Mühe jenes toskanische Italienisch, das bei der Nationalstaatsbildung
zur offiziellen Sprache erklärt worden war. [...] (S.1116)
"Wenn Wissenschaftler und Intellektuelle in asiatischen Ländern - im Osmanischen Reich [...] verstärkt nach der Jahrhundertwende, in China nach 1915 - vereinfachende Reformen von Sprache, Schrift und Literatur in Gang setzten, die den tiefen Graben zwischen Elite- und Volkskultur überwinden sollten, dann taten sie nur das, was wenige Jahrzehnte zuvor
oder gar gleichzeitig in europäischen Ländern unternommen worden war, ohne dass von direkter Nachahmung die Rede sein kann. Die sprachliche Spaltung zwischen Elite und Volk, zwischen geschriebener und gesprochener Sprache war im 19. Jahrhundert auch in Europa noch in einem Maße üblich, wie man es sich heute kaum noch vorstellen kann." (S.1117)
Alphabetisierung und Verschulung
"Zu den wichtigsten kulturellen Basisprozessen des 19. Jahrhunderts gehört die Verbreitung der Lesefähigkeit in großen Teilen der Bevölkerung." (S.1117)
"Bis 1914 waren die männlichen Populationen Europas so weit alphabetisiert worden, dass die Soldaten aller Seiten die Gebrauchsanweisungen ihrer Waffen verstehen, die Propaganda ihrer Kriegsherren aufnehmen und ihre Familien mit Nachrichten aus dem Felde versorgen konnten. [...] Um 1920 waren die männliche Bevölkerung der maßgebenden europäischen Länder und ein Teil der weiblichen Bevölkerung des Lesens und Schreibens kundig. [...] Nur Großbritannien, die Niederlande und Deutschland hatten um 1910 eine Alphabetisierungsrate von 100 Prozent erreicht. Für Frankreich lag sie bei 87 Prozent, für Belgien, das am wenigsten literarisierte unter den «entwickelten» europäischen Ländern, bei 85 Prozent. (S.1118) Deutlich niedriger fielen die Werte für den europäischen Süden aus: 62 Prozent für Italien, 50 Prozent für Spanien, nur 25 Prozent für Portugal. (S.1118/19)
"Die Zeit um 1860 markiert für ganz Europa einen Wendepunkt in diesem allgemeinen Trend. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich allein Preußen dem Ziel einer vollständigen Beseitigung der Leseunfähigkeit genähert. Nach 1860 beschleunigte sich die Entwicklung. Dies schlug sich nicht nur in statistisch greifbaren Daten nieder, sondern auch im gesellschaftlichen Gesamtklima. Um die ]ahrhundertwende hatte in ganz Europa,
auch auf dem Balkan und in Russland, der Analphabetismus seine Selbstverständlichkeit verloren. (S.1119)
"Dass seit etwa 1780 städtische Intellektuelle in Europa Märchen, Sagen und Volkslieder sammelten, aufschrieben und in einen Ton hochartifizieller Natürlichkeit brachten, war ein Indiz für die schwindende Selbstverständlichkeit mündlicher Traditionen." (S.1119/20)
"Eliten reagierten auf Massenalphabetisierung widersprüchlich: Auf der einen Seite erschienen die Aufklärung des 'einfachen Volkes', die Austreibung von 'Aberglauben' durch rationalisierende Lektüre und überhaupt die Standardisierung von Kulturpraktiken als 'Zivilisierung' von oben, Durchsetzung der Moderne und Förderung nationaler Integration.
Auf der anderen Seite gab es weiterhin ein Misstrauen [...] gegenüber der kulturellen Emanzipation der Massen, die zugleich - Arbeiterbildungsvereine zeigten dies schnell- mit
Forderungen nach sozialer und politischer Besserstellung verbunden war.
Dieses Misstrauen der Besitzer von Macht und Bildung war nicht unberechtigt.
Alphabetisierung, also die 'Demokratisierung' des Zugangs zu schriftlichen Kommunikationsinhalten, führt in der Regel zu Umschichtungen in Prestige- und Machthierarchien und eröffnet neue Möglichkeiten des Angriffs auf bestehende Ordnungen. Die Sorgen der kulturell Besitzenden hatten auch eine geschlechterpolitische Stoßrichtung. Dass unmäßiges und ungebändigtes Lesen zu weltfremden Illusionen und besonders
bei Leserinnen zu einer überhitzten erotischen Einbildungskraft führe, blieb bis zu Gustave Flauberts Madame Bovary (1856) und weit darüber hinaus ein satirisches Thema der Literatur und eine Sorge männlicher Moralwächter." (S.1120)
"Staat, Kirchen und private Anbieter bedienten konkurrierend einen wachsenden Erziehungsmarkt. Dies war grundsätzlich nicht nur in Europa so. Das englische Erziehungswesen zum Beispiel zeigt manche Ähnlichkeit mit dem gleichzeitigen Erziehungswesen muslimischer Länder: In beiden Fällen lag die Primarerziehung in hohem Maße in den Händen religiöser Institutionen, deren Ziele nicht weit voneinander entfernt waren: Lesen, Schreiben, Internalisierung moralischer Werte und Schutz der Kinder vor
den «schlechten Einflüssen» ihrer alltäglichen Umgebung. [...] Ökonomische Voraussetzungen mussten erfüllt sein, um Massenalphabetisierung zu ermöglichen, [...] nur oberhalb einer gewissen Wohlstandsschwelle konnten Familien ihre Kinder von der
Produktion freistellen und die Kosten für den regelmäßigen Schulbesuch aufbringen." (S.1121) "Noch 1895 drückten in Großbritannien nur 82 Prozent der registrierten schulpflichtigen Kinder im Grundschulalter regelmäßig die Schulbank. In vielen anderen Ländern Europas lag der Anteil weit darunter. [...] (S.1122)
"Die schulische Erfassung von Kindern
lag in Ländern wie Mexiko, Argentinien oder den Philippinen nicht dramatisch unter derjenigen in Südeuropa und auf dem Balkan. Was literacy betrifft, so steht ihre
vergleichende Erforschung erst in den Anfängen. Für viele Teile der Welt fehlen noch für das gesamte 19.Jahrhundert statistische Angaben. Dies gilt selbstverständlich nicht für Nordamerika. Die nordamerikanischen Kolonien wiesen recht früh schon einen Alphabetisierungsgrad auf, der dem in den fortgeschrittensten Ländern Europas entsprach. [...] Seit den 1840er Jahren verbreitete sich in den USA das Gefühl, ein age of reading sei angebrochen. Es wurde unterstützt durch die schnelle Expansion der Presse und der Buchproduktion. Die USA, vor allem der Nordosten, wurden zum Ort einer kraftvollen
print culture. Die Alphabetisierungsrate unter Männern lag schon 1860 in den Neuenglandstaaten bei 95 Prozent; einzigartig in der Welt, hatten Frauen dort damals bereits ähnliche Werte erreicht." (S.1122)
"Normalerweise wurden Sklaven aber vom Lesen und Schreiben ferngehalten; schriftkundige Sklaven standen als potenzielle Rädelsführer von Aufständen
unter Dauerverdacht." (S.1122/33) "1890 lag die Alphabetisierungsrate unter
Afroamerikanern nationsweit bei 39 Prozent, 1910 schon bei 89 Prozent, fiel dann aber bis 1930 auf 82 Prozent. Damit war diese Minderheit höher alphabetisiert als jede schwarze Bevölkerungsgruppe vergleichbaren Umfangs in Afrika und als zahlreiche Teile des ländlichen Ost- oder Südeuropa. [...] Einige Indianervölker nutzten literacy gegen
große Widerstände als Instrument kultureller Selbstbehauptung. Am weitesten ging hier die Cherokee-Nation, deren Sprache nach 1809 verschriftlicht worden war: die Grundlage zur gleichzeitigen Aneignung der Lese- und Schreibfähigkeit auf Cherokee und Englisch. In vielen Teilen der Welt findet man Ähnliches: Sprachen mussten erst - oft, aber nicht immer von Missionaren - mit einem Alphabet versehen und lexikalisch verzeichnet werden, dann wurden Teile der Bibel übersetzt und als Übungsmaterial verwendet: das Fundament für die Bereicherung mündlicher Kommunikation durch die Schrift." (S.1123)
"Japan war bereits um 1800 eine auch nach strengen europäischen Maßstäben von Schriftlichkeit durchdrungene Gesellschaft. [...] Alle Samurai und zahlreiche Dorfvorsteher
mussten literat sein und chinesische Zeichen lesen können, um ihre Verwaltungsaufgaben
zu erfüllen. [...] 1909, also gegen Ende der Meiji-Zeit, war die Zahl der Analphabeten unter zwanzigjährigen Rekruten in fast allen Teilen Japans unter 10 Prozent gefallen: ein in ganz Asien einzigartiger Erfolg. [...]
Die Alphabetisierung der Chinesen, für die das jahrhundertelang maßgebende Lehrbuch bereits um 500 entstand, scheint während des 19. Jahrhunderts auf einem für vormoderne Gesellschaften im weltweiten Vergleich hohen Niveau stagniert zu haben." (S.1124)
"Die Legitimität der politischen und gesellschaftlichen Ordnung hatte seit Jahrhunderten darauf beruht, den Zugang zu Bildung und damit zu Status und Wohlstand nicht nur den Sprösslingen von Oberschichtfamilien zu reservieren. Es mussten daher Aufstiegskanäle offengehalten werden, wie sie im Europa der frühen Neuzeit allenfalls die Kirche bot." (S.1125)
"Warum fiel die alte Bildungskultur China zurück?
[...] Dass China heute eine schulisch intensiv durchdrungene Gesellschaft ist, gekennzeichnet durch ein differenziertes, stark leistungsorientiertes Erziehungssystem, das internationale Hilfe mit eigenen Erfahrungs- und Wissensbeständen verschmolzen hat und bei vergleichenden rankings ausgezeichnet abschneidet, ist ein Ergebnis der Politik der Kommunistischen Partei nach 1978. Der internationale Rückstand, der um 1800 aufgetreten war, wird zweihundert Jahre später korrigiert.
Wie aber kam dieser Rückstand zustande? [...]
Erstens. Das traditionelle Erziehungswesen war ausschließlich «von oben» konzipiert. [...] In einem solchen unitarischen Verständnis von Bildung blieb kein Raum für die spezifischen Qualifikationsbedürfnisse der unterschiedlichen Bevölkerungsschichten. [...]
Zweitens. Die mangelnde internationale Konkurrenzfähigkeit chinesischer Erziehung zeigte sich erst mit den militärischen Niederlagen des bis dahin unangefochtenen Reiches nach 1842. Die Analyse der Ursachen für Chinas militärische Schwäche und wirtschaftliche
Stagnation zog sich aber Jahrzehnte hin. Nichts fiel den Gelehrten-Beamten, die das Reich regierten und verwalteten, schwerer als einzuräumen, dass die Bildung, aus der sie selbst sozialen Rang und persönliche Identität bezogen, an der Schwäche Chinas nicht unschuldig sein könne und daher der Anpassung an veränderte Herausforderungen bedürfe. Man erkannte bald die Überlegenheit von «westlichem Wissen» (xixue) auf einigen
Gebieten, war aber nicht bereit, ihm kulturelle Gleichwertigkeit zuzubilligen. [...]
Drittens. [...] Die Ausdehnung des Landes [...] und die fiskalische Schwäche der Zentralregierung schlossen eine zielstrebige Politik nach dem Muster Meiji-Japans aus." (S.1125-27)
(Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, 2009)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen