MARIUS SCHAEFERS ist Sensitivity-ReadeR:
"Marius Schaefers liest den Anfang von Vladimir Nabokovs Lolita. Den Kopf tief übers Papier gesenkt, die Stirn in Falten. Schaefers liest, ohne zu wissen, woher der Abschnitt stammt. Ein Experiment. Er liest: "Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta: Die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta." So ungefähr geht das weiter, und als Schaefers die halbe Seite ausgelesen hat, entlässt er Luft durch den Mund mit einem erschöpften Fff. [...]
An sich finde ich es ja wichtig, dass Texte auch mal etwas Negatives in einem auslösen sollen", sagt er, seine Stimme ist hell und brüchig wie nach einem Stimmbruch. "Literatur soll schockieren dürfen. Das ist richtig und notwendig. Aber ... [...]
Kulturkonflikte können manchmal wirken wie eine Schlacht im Sandkasten, und da hat Schaefers gerade beste Voraussetzungen, einiges an Sand abzubekommen. Die einen sagen: Er kämpft gegen die männliche, weiße3 Vorherrschaft. Die anderen: Er besiegelt mit seiner Arbeit den Untergang des Abendlandes. Er selbst sagt: "Ich bin Sensitivity-Reader und werde beauftragt, Manuskripte vor der Publikation zu lesen und anzumerken, wenn die Gefühle strukturell diskriminierter Personen verletzt werden könnten. [...]
2019 hatte Marius Schaefers sein Coming-out als Transmann und gab auf Instagram Empfehlungen, wie man6 auf das Coming-out anderer reagieren sollte. Kurz davor hatte er ein Buch gelesen, das zum Anstoß für die Arbeit als Sensitivity-Reader werden sollte. Den Titel möchte er nicht verraten, um die Autorin nicht bloßzustellen, aber er erzählt, was ihn umtrieb: "Eine Figur darin war trans, was wie ein Riesengeheimnis behandelt wurde, als dürfe bloß hinter vorgehaltener Hand darüber gesprochen werden." Mit seinem Leben als Transmann hatte das nichts zu tun. Er ahnte, dahinter7 steckte keine böse Absicht, eher Unwissenheit. [...]Als er dann im Internet auf den Aufruf einer Gruppe von Sensitivity-Readern stieß, war er angefixt. Er schickte seine Kontaktdaten, wenig später stand er mit anderen auf einer gemeinsamen Homepage. Vier von ihnen sind heute seine Freunde. Sensitivity-Reader können Bibliothekarin sein, Logopäde oder Sozialarbeiterin8. Sie haben Gender Studies studiert oder Jura oder gar nichts. Viele von ihnen schreiben selbst. Alte weiße Männer sind keine darunter. Die meisten weichen irgendwie von der Norm9 ab.
Marius Schaefers’ erster Auftrag war eine Kurzgeschichte über eine Transfigur. Er las und annotierte, was ihm auffiel, dafür bekam er knapp 40 Euro. Heute variieren seine Honorare, je nach Umfang des Manuskripts und der Anzahl der Aspekte, auf die er sie prüft. Ein Buch von 400 Seiten kann schon mal eine Woche dauern, er kriegt dann bis zu 1500 Euro. "Ein sehr guter Lohn", sagt er. Wirklich? Na ja, gemessen an dem, was in der Buchbranche eben so gezahlt werde. [...]"
Die ZEIT hat eine(n) Sensivity Reader gebeten, ihren Text auf problematische Formulierungen hin zu lesen. Die gelb hervorgehobenen Wörter und Passagen hat sie als problematisch erkannt und kommentiert. Hier ihr Kommentar zu "weiße Vorherrschaft" :
3 Kennzeichnung des Begriffes "weiß", um hervorzuheben, dass es sich um eine "Race", eine konstruierte Menschengruppe, nicht etwa um die Farbe handelt. Es ist wie das S in Schwarz großzuschreiben. Ein anderer Punkt: Verständnishalber könntet ihr erwähnen, dass Marius eine Person of Color ist (wie genau er sich identifiziert, bitte mit ihm ausmachen), um seine Position und Perspektive im Kampf gegen die männliche, weiße Vorherrschaft in den Kontext mit einzubetten. Etwa: "... sieht er aus wie ein amerikanischer Bürgerrechtler of Color". Jede Person handelt aus einer anderen Perspektive und Motivation heraus. Das kann so noch mal deutlich gemacht werden.
Zum vollständigen Text und allen Kommentaren in der ZEIT:
Wie sensibel muss ein Buch sein? ZEIT, 26.1.2023
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