Gegen Chancengleichheit - Chancengleichheit ein Projekt von Eliten
https://www.perlentaucher.de/buch/cesar-rendueles/gegen-chancengleichheit.html
https://de.wikipedia.org/wiki/C%C3%A9sar_Rendueles
https://de.wikipedia.org/wiki/Podemos
https://de.wikipedia.org/wiki/Proteste_in_Spanien_2011/2012
Aus der Leseprobe:
"[...] Kinder beeinflussen sich auch untereinander. Eltern und Lehrer können das Verhalten der Kinder in ihrer Anwesenheit formen, aber mehr auch nicht. Eltern können vor allem einige Merkmale jener Kinder auswählen, mit denen ihr Nachwuchs zu tun hat: die Nachbarschaft, die Schule, das soziale Umfeld etc. Darüber hinaus sind Kinder aber sehr aktive Akteure ihrer eigenen Sozialisation. Sie nehmen nicht nur Inputs von außen auf, sondern bringen sie energisch, mit gelegentlich beunruhigenden Resultaten und trotz gegenteiliger Anstrengungen von Angehörigen und Lehrern selbst hervor. Deshalb reproduzieren sie in ihren Spielen bestimmte Normen und Konventionen, obwohl sie in ihrem unmittelbaren Umfeld über Gegenbeispiele verfügen. Die Psychologin Judith Rich Harris schildert den Fall eines Mädchens, das beim Puppenspielen zu ihrer Freundin sagt: »Mädchen können keine Ärzte werden, nur Krankenschwestern.« Dabei arbeitete ihre eigene Mutter als Ärztin in einem Krankenhaus.
Im Allgemeinen tendieren wir dazu, den Einfluss unserer Mitmenschen auf unser Verhalten zu unterschätzen. Doch die Beziehung zu Peergroups hat sehr starke Auswirkungen auf uns. Harris erwähnt eine Untersuchung der Soziologin Anne-Marie Ambert, die ihre Studierenden aufforderte, sich an ihr voruniversitäres Leben zu erinnern. Eine ihrer Fragen lautete: »Was macht dich ganz besonders unglücklich?« Im Gegensatz zur Hollywood-Mythologie, laut der beispielsweise die Abwesenheit von Vätern bei Baseballspielen ihrer Söhne schlimme Folgen haben soll, nannten nur 9 Prozent der Befragten Ablehnung oder Vernachlässigung durch ihre Eltern. 37 Prozent hingegen verwiesen auf negative Erfahrungen mit Gleichaltrigen, die sie dauerhaft verunsichert hätten. Möglicherweise sind Kränkungen unter Gleichen deshalb besonders verletzend, weil die Ungleichheit selbst er-niedrigend ist. Nur ein gewaltiger Fetischismus erlaubt es uns, diese tief in unseren Körpern verankerte Realität zu ignorieren. Die Ungleichheit ist für eine erschütternde Zahl beschädigter Lebensläufe und kollektiver Dilemmata verantwortlich. Gleichheit ist nicht in erster Linie die Voraussetzung für irgendetwas anderes – für persönlichen Erfolg, Rechtsstaatlichkeit etc. –, sondern ein Ziel an sich, weil sie eine der Grundlagen unseres gemeinsamen Lebens darstellt. Die Gleichheit gehört zu den biologischen und kulturellen Fundamenten der menschlichen Soziabilität, unseres Vermögens und Bedürfnisses, zusammen zu leben. Die Ablehnung der Ungleichheit und die kollektive Missbilligung mächtiger Individuen sind tief in unserer Evolutionsgeschichte verwurzelt: Wir sind sehr viel weniger hierarchische Tiere als andere Primaten. Zudem zeigt die historische Erfahrung, dass wachsende Ungleichheit mit gesellschaftlichem Zerfall, einem Verlust an Solidarität und der Zunahme kollektiven Misstrauens verknüpft ist. Die Ungleichheit zerstört die sozialen Bindungen, die für jedes Projekt eines guten Lebens unverzichtbar sind.
Dieses Buch will diese These – der zentralen sozialen, kulturellen und ethischen Bedeutung der Gleichheit – aus der Perspektive aktueller emanzipatorischer Bewegungen vertiefen. Gleichheit ist gleichermaßen eine Voraussetzung für die soziale Organisation der menschlichen Spezies als auch für unsere individuelle persönliche Entwicklung und Autonomie. Der Psychoanalytiker Donald Winnicott definiert das Trauma – ein trotz seiner häufigen Verwendung recht schwammiger Begriff – als »Riss in der Kontinuität des Seins«. Die allgemeine Ungleichheit unserer Gesellschaften ist ein kollektives Trauma, ein gesellschaftlicher Riss, der sich auf unsere Fähigkeit auswirkt, Beziehungen zu anderen zu knüpfen, und der erschreckende politische und persönliche Folgen hat. Trotzdem nimmt die materielle Gleichheit in politischen Projekten der Gegenwart lediglich eine marginale oder zumindest nicht besonders zentrale Stellung ein. Nur zwei Aspekte des egalitären Projekts sind gesellschaftlich mehr oder weniger akzeptiert: die Chancengleichheit sowie die moralische Empörung über extreme Ungleichheit und Armut. Bei der Chancengleichheit handelt es sich meiner Ansicht nach jedoch um eine meritokratische Perversion des Egalitarismus; die Empörung ist folgenlos oder führt zumindest nicht sonderlich weit. [...]"
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