Navid Kermani erinnert beim Neujahrsempfang im Frankfurter Römer an die Proteste und Hinrichtungen im Iran.
Es war eine Geschichte aus seinem Leben, die Navid Kermani beim Neujahrsempfang im Kaisersaal des Römers zu erzählen hatte. Er war, sagte er, am Wochenende mit seiner Tochter Skifahren, im Lift hatte er Empfang, da brach diese Nachricht über ihn herein: Zwei Menschen, die im Iran protestiert hatten, wurden hingerichtet. Einer von ihnen ist Mohammad Hosseini, der 39 Jahre alt wurde, ein Waise war und Arbeiter in einer Geflügelfabrik.
Mohammad Hosseini hinterließ einen Abschiedsbrief, in der er sich eine Gesellschaft wünschte, in der Kinder in Frieden leben könnten, in der Liebe zwischen den Menschen herrsche, in der Frauen echte Rechte hätten: „Frau, Leben, Freiheit“, beschwor er den Slogan der politischen Emanzipation im Iran. Ob er den Text selbst geschrieben habe, ob ihm jemand seine Stimme verlieh? „Das ist egal. Es spricht die Wahrheit“, sagte Navid Kermani, deutsch-iranischer Schriftsteller und Intellektueller. „Vergesst Mohammad Hosseini nicht.“
Frankfurt und seine Bezüge zum Iran
Auch Frankfurt habe Bezüge zum Iran, führte Navid Kermani aus, Goethe etwa mit dem West-östlicher Divan, und Nargess Eskandari-Grünberg, die in der ersten Reihe saß. „Frau Grünberg-Eskandari“, wie er sie gleich zweimal nannte, was die Sympathien aber nicht schmälerte, habe als junge Frau im Iran im berüchtigten Evin-Gefängnis als politische Gefangene eingesessen. Sie habe als politische Geflüchtete in Deutschland Deutsch gelernt und in Frankfurt Karriere gemacht. Es gehe ihr sicher ebenso wie ihm, wenn Meldungen über Hinrichtungen im Iran auf dem Handybildschirm auftauchten: Die Welt breche in die Realität herein.
Mehr als 100 Menschen stünden im Iran auf der Todesliste, sagte er. Mehr als 500 Menschen seien bereits getötet worden, vier davon hingerichtet. Mehr als 19 000 Menschen säßen in den überfüllten Gefängnissen.
Deutschland habe, als die Proteste im September begannen, vier Wochen gezögert. Dann habe die Bundesaußenministerin eine 180-Grad-Wende in ihrer Iran-Politik gemacht. „Der Druck von innen und der Druck von außen werden etwas bewirken“, ist sich Kermani gewiss.
Es gehe im Iran nicht nur um den Kopftuchzwang. Auch wenn der Tod von Mahsa Amini, der eine Haarlocke unter dem Kopftuch hervorgelugt haben soll, den Auftakt der Proteste bildete. Es gehe um Frauenrechte, Menschenrechte, den Alltag, Korruption, Armut, Umweltverschmutzung. Im Iran trockneten Flüsse aus, in den Städten wabere Smog durch die Luft. Das Regime versuche die Proteste mit einer äußersten Gewaltbereitschaft, einem Meer von Blut, zu unterdrücken. Doch der Wandel lasse sich nicht aufhalten. 85 Prozent der Menschen im Iran solidarisierten sich mit dem Protest - auch wenn nur noch wenige todesmutig auf die Straße gingen. „Der Iran hat eine Stimme“, sagte Kermani. Gleiches wünsche er sich für Afghanistan. ( FR 10.1.23)
"Weltpolitik bestimmt die Reden beim Neujahrsempfang der Stadt Frankfurt, die OB-Wahl die Gespräche in den Hallen
Es ist wie früher. Wie im Januar 2020, vor der verdammten Pandemie. Vor der Tür warten die Menschen in Schlangen. In langen Schlangen. 1200 Gäste sind geladen. Vor dem Kaisersaal drängt sich alles. Und am Bufett werden vor allem Menschen froh, die Fleisch mögen. So war es immer beim Neujahrsempfang der Stadt Frankfurt im Römer, der zuletzt zwei Mal coronabedingt ausfiel. Und so ist es auch am Dienstagabend.
Eines aber ist grundlegend anders als noch 2020. Die erste Rede des Abends hält nicht Peter Feldmann. Der wurde im November als Oberbürgermeister abgewählt. Dafür spricht Nargess Eskandari-Grünberg. Die ist wahlweise amtierende Oberbürgermeisterin oder kommissarische Oberbürgermeisterin oder Bürgermeisterin oder Diversitätsdezernentin. Jedenfalls ist sie erste Rednerin, trägt die silberne Amtskette und spricht zu sehr aktuellen Themen, was die meisten Gäste sehr gut finden.
Da geht es etwa um den Fechenheimer Wald, in dem die Polizei in den nächsten Tagen wohl mit schwerem Gerät anrücken wird. „Wir tragen gemeinsam Verantwortung, dass Auseinandersetzungen, wie sie im Fechenheimer Wald zu erwarten sind, friedlich verlaufen.“ Und es geht um die Krawalle in der Silvesternacht. Eskandari-Grünberg verurteilt die Angriffe auf Rettungskräfte und Polizei. Sie sagt aber auch: „Wenn ein kompliziertes Thema auf kriminelles Verhalten von Jugendlichen und jungen Menschen reduziert wird – und dies auch noch migrant:innenfeindlich und rassistisch – ist das nicht akzeptabel.“
Auch über die großen Krisen in der Welt spricht die Politikerin der Grünen. Über den Iran, wo die Bevölkerung für Menschenrechte kämpfe und der Ruf „Frau, Leben, Freiheit“ den Demonstrierenden Mut mache. Und über die Ukraine, in der es um „nicht weniger als Selbstbestimmung, Toleranz, Frieden und Freiheit“ gehe.
Um die Frankfurter Kommunalpolitik geht es nach den Reden fast überall in den weitläufigen Gängen des Römers. Und über Grüne Soße. Denn die gab es immer in den Vorpandemiejahren – außer in dem Jahr, als es nur Laugenbrezeln gab. Dieses Jahr: „Gibt keine“, sagt Ordnungsdezernentin Annette Rinn (FDP). Und ist etwas enttäuscht. „Handkäse gibt es auch nicht.“ Aber Handkäse hin, Grüne Soße her – für die Ordnungsdezernentin beginnt „das Jahr der Verbesserung“. Im Bahnhofsviertel, in der Ausländerbehörde – „alles wird besser und Yanki Pürsün Oberbürgermeister“. Sieht FDP-Kandidat Pürsün natürlich ähnlich. Verpackt es nur anders: Die Gremien der Stadt sollten mit der Stadtgesellschaft „Hand in Hand einen riesigen Schritt vorangehen“. Mit ihm als Stadtoberhaupt.
Grünen-Parteichefin Julia Frank lacht da nur. Sie ist „optimistisch für die OB-Wahl“. Für die Kandidatin der Grünen, für Manuela Rottmann. Die ist noch ganz im Bann der Rede von Navid Kermani. „Ich wünsche mir, dass die Krisen auf der Welt abnehmen“, sagt Rottmann. Sie hoffe, dass es zumindest in Teilen der Welt die Chance auf Frieden in diesem Jahr gibt.
Auch OB-Kandidatin der Linken, Daniela Mehler-Würzbach, wünscht sich, da alle derzeit fassungslos aufs Weltgeschehen schauten, „Mut zur Veränderung für die Politik.“ Und selbstverständlich, dass „die Frankfurterinnen und Frankfurter bereit sind für eine linke Oberbürgermeisterin“.
Logischerweise wünscht sich Uwe Becker etwas anderes. Dass er, der OB-Kandidat der CDU, „die Chance bekommt, meine Heimatstadt zu gestalten“. Und ja, er würde sich auch freuen, wenn die Frankfurterinnen und Frankfurter ihm bereits im ersten Wahlgang ihr Vertrauen schenken würden. „Frankfurt kann mehr und ich will mehr daraus machen.“ Aber Silvester hat er es erst einmal ruhig angehen lassen, „gemütlich zu Hause“, um auf den Trubel der nächsten Wochen vorbereitet zu sein. Nico Wehnemann (Die Partei) freut sich auch über die Kandidatur Beckers. Wie Peter Feldmann würde er in jedes Fettnäpfchen treten, „das ist großartig für unseren eigenen Bembel-Wahlkampf“.
Der Oberbürgermeisterkandidat der SPD, Mike Josef hofft auf ein ruhigeres Jahr als 2022. Zum einen wegen der weltweiten Krisen, aber natürlich auch weil die Frankfurter SPD durch die Abwahl von Feldmann sich wenig auf das politische Tagesgeschäft konzentrieren konnte. Er wünscht sich Gesundheit und blickt zuversichtlich auf den Wahlkampf. [...]" (FR 10.1.23 Timur Tinç, Sandra Busch, Georg Leppert)
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