Wolfgang Streeck: Zwischen Globalismus und Demokratie: Ist Kleinstaaterei der Ausweg? Von Otfried Höffe
[...] Buchtitel sollen Aufmerksamkeit wecken, was dem emeritierten Max-Planck-Direktor Wolfgang Streeck bei seinem neuem Opus magnum fraglos gelingt: „Zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus“.
Der Titel verbindet nämlich zwei der wichtigsten Begriffe der heutigen politischen Debatte zu einer These. Der erste Begriff erklärt ein Grundphänomen unserer Zeit – die Globalisierung – zu einem -ismus, mithin zu einer Ideologie, die hoffentlich, so geht die angedeutete These weiter, zugunsten der in normativer Hinsicht allein legitimen Staatsform, der Demokratie, überwunden werde. Allenfalls vermisst man hier die Qualifikation der Demokratie als „konstitutionell“, weil sie auf Verfassungsprinzipien wie die Grund- und Menschenrechte sowie die Gewaltenteilung zu verpflichten sei.
Die nähere Erläuterung dieser Leitthese widerspricht vehement zwei der nach Streecks Ansicht in Theorie und Praxis vorherrschenden politischen Entwicklungen. Der Grund für die beiden Fehlentwicklungen liegt, wie der Untertitel des Werkes anzeigt, im Neoliberalismus. Gemeint ist ein Wirtschaftsliberalismus, der mit seinem Kapitalismus mehr und mehr lediglich die Marktkräfte ohne die für eine humane Wirtschaft notwendigen Gegenkräfte stärkt.
Dieser Neoliberalismus ist dem ersten Teil, „Kapitalistische Wirtschaft“, zufolge in eine doppelte Krise geraten, in „die Gleichzeitigkeit von wirtschaftlicher Stagnation und politischer Blockade, von Wachstumsschwäche und Vertrauensverlust, von Kapitalismus- und Demokratiekrise“. Dafür sei in hohem Maß eine „für die Stabilität und Bewohnbarkeit unzulängliche“ Global Governance verantwortlich. Denn sie baue ein weltweites Staatensystem auf, in dem nationale Sonderregelungen und nationale Gerichte, mithin demokratische Einflusschancen minimiert würden. Und im Fall unseres Kontinents ziele die Europäische Union auf einen Superstaat, auf ein Imperium, was aber scheitere. Sowohl in der globalen als auch der europäischen Entwicklung verliere der Gesichtspunkt, der in politischer Theorie und Praxis doch unverzichtbar sei – die Volksherrschaft –, zunehmend an Gewicht. [...]
Insoweit sind Streecks Warnungen vor der insbesondere für Deutschland nicht abwegigen Diagnose von „Europa“ als Zivilreligion beachtenswert. Man mag die folgende Behauptung für eine polemische Zuspitzung halten, muss sie als Diskussionsthese aber doch für zulässig halten: „Die Europäische Währungsunion ist der supranationale Wohlfahrtsausschuss des nationalen Konsolidierungsstaates: ein Instrument der politischen Eliten zur Durchsetzung der Hyperglobalisierung ... bei gleichzeitiger Verschleierung ihrer Kosten.“
Weiterhin wäre hinsichtlich des für die westlichen Staaten behaupteten Neoliberalismus eine differenziertere Diagnose wünschenswert. Die USA sind ohne Zweifel stärker neoliberal bestimmt als Deutschland mit seiner sozialen Marktwirtschaft, zu der beispielsweise in den Unternehmen die Mitbestimmung gehört und die Staatsausgaben für Arbeit und Soziales bei etwa 50 Prozent liegen, wobei dieser Anteil nicht etwa sinkt, vielmehr steigt. Schließlich kann man auch den in Skandinavien vorherrschenden Fürsorgestaat, das sogenannte Volksheim, nicht als in hohem Maß neoliberal bewerten.
Der Blick auf die USA gebietet schließlich einen hier letzten Vorbehalt gegenüber Streecks „Ausweg“: Das, was etwa auf Israel, Norwegen und die Schweiz zutrifft, nämlich Kleinstaaten zu sein, passt auf die USA gewiss nicht, übrigens ebenso wenig auf Indien, auch wenn man diesen Staat nicht ohne weiteres als funktionierende Demokratie einzuschätzen gewillt ist.
Auch hier scheint der gegen den Ausdruck des Nationalstaates vorgeschlagene Begriff des Einzelstaates wichtiger zu sein: Die Geschichte wird zeigen, ob sich bisherige Kleinstaaten im Laufe der Zeit zu größeren Gebilden entwickeln, wie die zunächst einzelnen Neuenglandstaaten zu den USA wurden. Oder wie nach dem populären Geschichtsbild aus Uri, Schwyz und Unterwalden nach und nach die heutige Schweizer Eidgenossenschaft entstand. [...]"
Wenn politische Beschlüsse durch weltweite Marktwirtschaft ersetzt werden. In: Andruck – Das Magazin für politische Literatur im Deutschlandfunk. 22. April 2013
Wolfgang Streeck formulierte, Wirtschafts- und Finanzexperten seien Kapitalversteher, „deren besonderes Know-how darin besteht, den Eigentümern von Produktionsmitteln ihre Wünsche von den Lippen abzulesen und sie für den öffentlichen Gebrauch in »Sachzwänge« zu übersetzen.“ (Eine Last für Generationen. in: Handelsblatt. 10. März 2009)
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