"Es gab mit der Queen noch eine Instanz, eine überwölbende Identifikationsfigur, die weit über den parteipolitischen Kämpfen stand, in einem völlig anderen Ausmaß als die ja doch immer gewählten, und damit den jeweils aktuellen Mehrheitsverhältnissen ausgesetzten repräsentativen Staatsoberhäupter anderer Länder, beispielsweise der deutsche Bundespräsident. Die Briten konnten, wenn sie in den kollektiven Spiegel sahen, darin noch die vornehme Beständigkeit von Elisabeth erkennen. Nun sehen sie da Liz Truss. Oder Keir Starmer. Parteipolitiker jedenfalls, das Personal eines krisenhaften Alltags. So ist der Tod der Queen auch der Moment, in dem die Briten sich selbst und die von ihnen geschaffenen politischen Zustände erkennen müssen. Es ist das Ende einer Selbsttäuschung.
Zu dieser Selbsttäuschung gehört auch das mentale Festhalten am alten Empirestatus. Als ihr Vater 1952 starb und sie Königin wurde, war Elisabeth gerade in Kenia unterwegs, einer der vielen damaligen Kolonien des britischen Weltreichs. Dieses Weltreich gibt es schon lang nicht mehr, aber weil die Königin noch die gleiche war wie zu Empirezeiten, konnte sich auch das kollektive Selbstbild der Briten nie ganz von der (für sie) glorreichen Vergangenheit lösen. Es gab an der Spitze des Staates keinen personellen Bruch mit dieser längst vergangenen Epoche, das postimperiale Britannien konnte vielleicht deshalb nie ganz in der Gegenwart ankommen, weil in ihrer höchsten Repräsentantin die Vergangenheit symbolisch noch weiterlebte. So hielt sich auch die kolonialistische Vorstellung, andere für die eigenen Probleme und Kosten in Haftung nehmen zu wollen: die Franzosen für die Migration, die EU für den wirtschaftlichen Abstieg und sowieso alles Schlechte. Die britische Politik war zuletzt geprägt von einer chronischen Verantwortungsflucht. Viele der führenden Personen erwecken den Eindruck, sie und das Land hätten eine Art historisch gewachsenen Anspruch auf Wohlergehen. Die Armut explodiert, das Gesundheitssystem ist ruiniert, aber die neue Premierministerin plant eine Umverteilungspolitik von unten nach oben, als ginge das nichts an. Der Financial Times-Kolumnist Simon Kuper klagt schon, das Land verwandele sich in ein zweites Brasilien. Die Hoffnung wäre, dass das Land nun seine Empire-Phantomschmerzen loswird und sich der Gegenwart umso engagierter stellt: Großbritannien ist nicht mehr groß, sondern ein vergleichsweise kleines Land mit vergleichsweise großen, selbstverschuldeten Problemen." (Tod von Queen Elizabeth II: Die Mitte ist leer, Von Lenz Jacobsen und Nils Markwardt ZEIT 9.9.2022)
Ich stimme dieser Analyse so nicht zu, doch m.E. ist etwas Wahres daran. Und diese Teilwahrheit trifft auch EU, Europa und den "Westen"*. Schuld sind die anderen.
Das gilt auch für Russland und China, die Pandemie ("Der Virus ist schuld!") und den Klimawandel ("Wer konnte denn ahnen, dass er sich nicht an die politischen Spielregeln hält und die Menschenwürde nicht achtet mit seiner Gleichmacherei von Menschen und Tieren!")
Aber vor alle: Warum gibt es die anderen, die Tausende, die ertrinken und denen wir nicht die Schuld geben können! - Selbst die Briten zeigen etwas vom Allgemeinmenschlichen.
*So angenehm war an der Humanitären Intervention, dass sie Vorwärtsverteidigung des Westens am Hindukusch und überall in der Welt rechtfertigte, so lange sie ihren Zweck ("nationales Interesse") erfüllte.
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