"Antisemitismus war ein neuer Begriff für ein altes, auf dem Kontinent
weitverbreitetes Phänomen: den Hass auf Juden. Die traditionelle
christliche, seit Jahrhunderten bestehende Feindseligkeit
gegenüber »den Mördern Christi« hielt sich hartnäckig und wurde
vom christlichen Klerus gepflegt - vom protestantischen ebenso wie
vom katholischen und vom orthodoxen. Ein anderes, tief verwurzeltes
Element dieses Hasses rührte aus uralten ökonomischen und
sozialen Ressentiments, die neue Nahrung erhalten hatten, weil es
die in jüngerer Zeit gewährten Freiheiten den Juden erlaubt hatten,
in größerem Umfang am Geschäfts- und Kulturleben teilzunehmen.
Bald schon provozierte das Reaktionen: Bei jedem wirtschaftlichen
Abschwung wurden die Juden zum Sündenbock gemacht. Vom ausgehenden 19. Jahrhundert an wurden die alten, oft bösartigen Formen
des Judenhasses von etwas noch Ärgerem überlagert. Nun nämlich
vermengten sie sich mit neuen, potenziell mörderischen Rassenlehren,
die eine pseudowissenschaftliche, biologische Rechtfertigung für
Hass und Verfolgung boten. Die ältere Diskriminierung, die zweifellos
schon schlimm genug gewesen war, hatte es Juden gestattet (sie
manchmal auch gezwungen), zum Christentum zu konvertieren. Das
schloss der wissenschaftlich verbrämte, biologische Antisemitismus
aus. Ihm zufolge waren Juden rassisch, »ihrem Blut nach« anders. Ein
Jude, so hieß es, könne ebenso wenig zum Franzosen oder Deutschen
werden, wie beispielsweise eine Katze zu einem Hund gemacht werden
könne. Es war eine Doktrin, die nicht nur auf Diskriminierung
hinauslief, sondern auf totalen Ausschluss. Und sie führte potenziell
auf den Weg physischer Vernichtung."
(Ian Kershaw: Höllensturz. Europa 1914 bis 1949, dva 2016 S.36)
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