Den Menschen in der Heimat war es unmöglich, das ganze Ausmaß
des Grauens an der Front zu erfassen, dabei hatten sich in Großbritannien
Millionen von Menschen eine Ahnung davon verschaffen
können - durch den Dokumentar- und Propagandafilm The Battle of
the Somme (Die Schlacht an der Somme}, der zwar teilweise (in den
Angriffsszenen) nachgestellt war, die entsetzliche Erfahrung aber
nicht verhüllte. Dies war das erste Mal in der Geschichte, dass ein
Publikum zu Hause Krieg und Kriegsgeschehen hautnah zu sehen
bekam. Der Film war so erschütternd, dass manche Zuschauer vor
Entsetzen in Ohnmacht fielen. Die Behörden mussten erkennen, dass
die Bevölkerung eine solche Konfrontation mit der düsteren Wirklichkeit
des Krieges nicht verkraftete. Die meisten Angehörigen zu
Hause wollten oder mussten verdrängen, was ihre Lieben an der Front
zu erleiden hatten. Daher überrascht es nicht, dass viele Soldaten mit
dem Gefühl in den Frontdienst zurückkehrten, dass die Menschen
daheim überhaupt nicht verstanden, was sie durchmachten. So etwa
kühlte sich der herzliche Empfang, den ein britischer Leutnant auf
Heimaturlaub 1917 bei seinen Angehörigen erfuhr, rasch ab, als diese
den britischen Sieg von Passendale rühmten. Er nämlich beschrieb
daraufhin das Grauen dieser Schlacht, deutete an, dass die Verluste
umsonst gewesen seien - und wurde prompt vor die Tür gesetzt.
Ein derartiger Mangel an Sensibilität, ein solches Unverständnis
waren jedoch nicht unbedingt typisch. Die Interaktion zwischen Heimat
und Front war enger und bedeutsamer, als dieser Fall nahelegt.
Die schiere Menge an Post, der essenziellen Verbindung in die Heimat,
dokumentiert das starke Bedürfnis nach Heimaturlaub (bei jenen, die
das Glück hatten, überhaupt daran denken zu können, anders beispielsweise
als kanadische, australische, neuseeländische oder indische
Soldaten, anders auch als die vielen Männer, die aus entlegenen
Gegenden des Russischen Reiches stammten). Es scheint außerdem,
dass - als der Konflikt sich hinzog - die Meinungen über den Krieg in
der Heimat und an der Front immer mehr miteinander verschmolzen,
insbesondere bei den kriegführenden Mächten, die sich dem Gedanken
einer immer wahrscheinlicheren Niederlage stellen mussten.
(Jan Kershaw: Höllensturz. Europa 1914 bis 1949, dva 2016, Kapitel 2, S.113-114)
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