Dienstag, 19. November 2024

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten, 2024

 Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten, Siedler Verlag, München 2024   (orig.: Autocracy, Inc.: The Dictators Who Want to Run the World, Doubleday, 2024)

Wikipedia: "Anne Applebaum betrachtet sich selbst als Liberal-Konservative. Sie bejaht Marktwirtschaft,  Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, die NATO und die Europäische Union.[26]

Im Jahr 2002 veröffentlichte sie eine Kolumne, in der sie israelische Angriffe auf die palästinensische Radio- und TV-Station Voice of Palestine verteidigte, weil diese ihrer Meinung nach durch die systematische Verbreitung von anti-israelischen Inhalten und der Befürwortung des Terrorismus, insbesondere von Selbstmordattentaten, ein legitimes Ziel seien.[27]

Russland unter Präsident Wladimir Putin sieht sie als raffinierte Diktatur. Die russische  Gazprom etwa sei kein privatwirtschaftliches Unternehmen, sondern ein Instrument russischer Außenpolitik: „Das ist nicht dasselbe wie – sagen wir – Shell. Gazprom gehört den Leuten, die den Kreml kontrollieren und ist eines ihrer Werkzeuge. Gazproms Aktivitäten in Deutschland – einschließlich des Kaufs eines Fußballvereins – ist russische Propaganda. Es hat alles mit Korruption zu tun, wenn man sich anschaut, wie die russischen Oligarchen reich geworden sind: Die haben fast alle westliches Offshore-Banking benutzt. Sie haben ihr Geld zusammen mit der russischen Mafia angelegt. Die Firmen haben ein Doppelleben geführt – ein legales und ein illegales“, meinte Applebaum in einem Interview mit The European.[28] Putins Krieg in der Ukraine sei zynisch, da er damit versuche, den Westen einzuschüchtern und zu destabilisieren.[29] Nur wenn Russland begreife, dass der Angriff auf die Ukraine ein Fehler war, gebe es eine Chance für dauerhaften Frieden, so Applebaum Anfang 2023. Jede andere Lösung – ein vorausgehender Waffenstillstand oder die Abtretung von Gebieten – berge das Risiko, dass Russland einige Monate oder Jahre warte und dann wiederum eine Invasion beginne. Mit den Waffenlieferungen schicke der Westen „eine klare Botschaft“ an Russland.[30]"


"Autokratische Herrschaft besteht im 21. Jahrhundert nicht länger nur aus einem Tyrannen an der Spitze, der mit Gewalt sein Volk unterdrückt: Heute werden Autokratien durch ausgeklügelte Netzwerke geführt, es hat sich eine neue internationale autokratische Allianz gebildet, wie Bestsellerautorin Anne Applebaum in ihrem neuen Buch zeigt. Von China bis Weißrussland, von Syrien bis Russland unterstützen sich Autokraten von heute gegenseitig mit Ressourcen und Equipment made in Iran, Myanmar oder Venezuela: von Propaganda-Trollfarmen und Bots über Investitionsmöglichkeiten für ihre korrupten Staatsunternehmen bis hin zum Austausch modernster Überwachungstechnologien. Applebaum offenbart, wie die Diktatoren der Welt hinter den Kulissen zusammenarbeiten und sich mit aggressiven Taktiken gegenseitig Sicherheit und Straffreiheit verschaffen. Und sie macht deutlich, wie diese autokratische Allianz unsere Demokratie untergräbt." (Siedler Verlag)

daraus:
"[...] Sieglinde Geisel einen überzeugenden Überblick über die "flexiblen Zweckbündnisse" vor, die Autokratien und Diktaturen weltweit eingehen, um ihre Macht zu erhalten und Demokratien zu zerstören. Von Russland über Syrien bis Venezuela werden die verschiedensten Staaten beleuchtet und aufgezeigt, welche Strategien sie von Waffenlieferungen an Rechtsextremisten bis Finanzspritzen an Terroristen zur Destabilisierung nutzen, so Geisel. Dass Putin und Xi Jinping bestimmt Begriffe nutzen, zum Beispiel von "Souveränität" sprechen statt von Menschenrechten, um sich so weiter gegen demokratische Bestrebungen wehren, kann Applebaum kenntnisreich vermitteln. "

NZZ "[...] Als Beispiele nennt sie iranische Drohnenlieferungen an Russland, so Ribi, oder auch die Hilfe, die der weißrussische Diktator Alexander Lukaschenko von seinesgleichen erhält. Autokraten wie Lukaschenko setzen ihre Machtinteressen inzwischen ganz offen durch, beschreibt Ribi mit Applebaum, auch weil der Westen, der lange vergeblich auf Wandel durch Handel setzte, dem nichts entgegenzusetzen habe. Applebaum plädiert nun für ein Umdenken, und ganz besonders für eine Fortsetzung der Waffenlieferungen an die Ukraine, so Ribi. Neue Erkenntnisse bringt dieses Buch nicht, gesteht er, aber es gelinge Applebaum, ein erfahrungsgesättigtes Gesamtbild von der derzeitigen bedrohlichen Weltlage zu zeichnen."
SZ "[...] Rezensentin Viola Schenz [...] Siegeszug der Autokraten, für den sie keine globale Verschwörung, wohl aber geschickte Kollaborationen von totalitären Regimes verantwortlich macht, die nicht durch eine gemeinsame Ideologie, sondern nur durch ihre Ablehnung des Westens zusammengehalten werden. Als Beispiele nennt Applebaum unter anderem den Gegenwind, den die Ukraine bei ihren Forderungen nach Unterstützung erhält, sowie die Ölverkäufe an China und Indien, die dem Iran dabei helfen, Terrormilizen im Nahen Osten zu finanzieren. Die Autokraten der Gegenwart, liest Schenz, tun nicht einmal mehr so, als würden sie das Beste für ihr Land wollen, stattdessen setzen sie darauf, die eigene Bevölkerung apathisch und hoffnungslos zu machen. Allzu viel Hoffnung macht auch Applebaums stark argumentiertes und angenehm verdichtetes Buch nicht, gesteht die Rezensentin ein, die Hoffnungen auf Wandel durch Handel haben sich inzwischen zerschlagen. Die Demokratien müssten eine Gegenachse bilden, erklärt Schenz, der Westen dürfte nicht immer nur auf den eigenen Vorteil blicken und Freiheitsbestrebungen auch andernorts fordern. [...]"


Inhalt des Buches

Einleitung: Die Achse der Autokraten

Kapitel 1: In Gier vereint S.25 ff
gegenseitige Unterstützung durch andere Autokraten, ganz unabhängig von Ideologien

Kapitel 2: Das Krebsgeschwür der Kleptokratie S.4 ff.
z.B. arbeiten Venezuela und Iran zusammen

Kapitel 3 Deutungshoheit (S.70 ff.)
Sharp power (S. 84ff.) [Zum Aufkommen des Begriffs im 19. Jh. und schlagartiger  Vervielfachung am Anfang des 21. Jhs: google books]














:
Kapitel 4 Ein neues Betriebssystem (S.103ff) 
Statt Menschenrechte   China: Recht auf Entwicklung, Souveränität

Kapitel 5 Die Verunglimpfung der Demokraten (S.127-154)  
Gene Sharp: Von der Diktatur zur Demokratie. Ein Leitfaden für die Befreiung. Beck, München 2008, 
Dazu Perlentaucher"[...] ein Lehrbuch zum gewaltfreien Sturz von Diktaturen. Der Politikwissenschaftler Gene Sharp hat es ursprünglich für die Demokratiebewegung in Myanmar (Birma) geschrieben. Besonders bei der Befreiung von den Diktaturen in Osteuropa hat es im letzten Jahrzehnt eine wichtige Rolle gespielt. Die serbische Widerstandsbewegung "Otpor" hat es beim Sturz Milosevics im Jahre 2000 benutzt, es wurde von den Befreiungsbewegungen Kmara" in Georgien, "Pora!" in der Ukraine, "KelKel" in Kirgisistan und "Subr" in Belarus (Weißrußland) verwendet.

Die Tageszeitung "Michael Holmes [...] dieser programmatische Klassiker der Widerstandsliteratur aus dem Jahr 1993 [...] analysiere systematisch Schwächen und Stärken von Diktaturen und bespreche Chancen und Risiken von Kommunikations- und Widerstandsstrategien. [...] Autor Gene Sharp sei dabei kein "blauäugiger Pazifist", sondern interessiere sich schlicht für die Frage, wie man Diktaturen effektiv und mit wenigen Opfern "zersetzen" könne. Ziel: Die liberale Demokratie." 







"Keine politische Gruppe hat sich diese neuen Möglichkeiten geschickter zu eigen gemacht als die Demokratiebewegung von Hongkong 2016 und 2019/20 (S.133/34) "Doch obwohl sie eine Schlacht nach der anderen gewannen, verloren sie den Krieg. Während ich dies schreibe, sind alle Führer der Proteste von Hongkong entweder im Gefängnis oder im Exil." (S.135)

Aber es gab auch Erfolge, die von einem einzelnen ausgingen, einem Pastor der Pfingstbewegung in SimbabweEvan Mawarire, der das #ThisFlag movement auslöste (2016). (vgl. S.136-139) 
Darauf reagierte das Regime, indem es "Mawarire als falsch, verlogen und von Ausländern manipuliert (S.139) verleumdete. 
Diese Methode ist alt, schon in der Antike zu Ciceros Zeiten, dann im Kampf von Stalin gegen seine Gegner, vor allem gegen Trotzki, dann 2009 gegen die Proteste im Iran und von Hugo Chávez, der seine Gegner als Agenten des amerikanischen Imperialismus bezeichnete, oder gegen den Investor George Soros, dem allerlei Verschwörungstheorien gelten, die auf die „Spitze des Weltfinanz-Zionismus“ und damit das Judentum allgemein zielen.
Mawarire sagte dazu "Die sozialen Medien, die uns groß gemacht haben, haben uns auch wieder abgeschossen" (S.142)
[Dazu Fontanefan: Ähnlich ist es auch Greta Thunberg gegangen, als sie sich für die Bevölkerung im Gazastreifen einsetzte.]
Auf die Verdächtigungen von US-Einfluss reagierte eine Euromaidan-Demonstrantin: 
" 'Die haben einfach nicht kapiert, dass wir uns selbst organisieren.' Wie Shore erklärt: 'Aus der Kreml-Propaganda, der zufolge amerikanische Geheimdienste oder andere internationale Verschwörer die Fäden ziehen, spricht nicht nur bösartige Absicht, sondern auch die Unfähigkeit, sich vorzustellen, dass es Menschen geben könnte, die eigenständig denken und handeln.' " (S.140)
[Dazu Fontanefan: Indem Applebaum diese Argumentation von Shore nicht kritisiert, gerät sie freilich in den inneren Widerspruch, dass sie bösartige Absicht und gleichzeitig Unfähigkeit, sich selbständiges Handeln vorzustellen, unterstellt. Beides zugleich schließt sich aber aus. Mit dieser überzogenen Kritik nähren Shore und Applebaum den Verdacht, dass sie von vielleicht wirklich vorhandenen US-Einflüssen ablenken wollen. Der Demonstrantin auf dem Euromaidan darf man zu gute halten, dass sie vielleicht wirklich an die Unfähigkeit des Kreml glaubt. Applebaum hat allzu deutlich gemacht, dass sie nicht daran glaubt, als dass sie Shores unbedachten Satz einfach auf sich beruhen lassen dürfte.
Nachdem Applebaum (auf S.144) den Fall Nawalny angesprochen hat, schreibt sie auf S.145: "Deshalb schrecken moderne Autokraten vor Mord zurück. Ein Märtyrer kann eine politische Bewegung beflügeln, doch eine erfolgreiche Schmutzkampagne kann sie zerstören." Wieder eine Unbedachtsamkeit: Gerade hier hätte sie darauf hinweisen müssen, dass zwar gegen allzu bekannte Gegner nicht Mord, sondern Schmutzkampagnen eingesetzt werden, dass aber - wenn diese nicht erfolgreich sind - zur Not doch auch auf Mord zurückgegriffen werden kann.]


Epilog: Demokraten vereinigt euch (S.155 ff.)

"[...] Von der Leyens Aufruf, diese Beziehungen auf der Grundlage von Transparenz, Berechenbarkeit und Gegenseitigkeit neu auszutarieren, war eine diplomatisch formulierte Forderung nach Zöllen, Einfuhrverboten und Exportkontrollen, die sicherstellen sollen, dass China mit staatlichen Mitteln nicht unsere Industrie ruiniert.
Diese Warnung reicht noch nicht aus, denn die Konkurrenz betrifft nicht nur China und nicht nur die Wirtschaft. Wir stehen heute an einem Wendepunkt, an dem wir dafür Sorge tragen müssen, dass Überwachungstechnologie, Künstliche Intelligenz, das Internet der Dinge, Stimm- und Gesichtserkennungssysteme und andere neue Technologien, den demokratischen Werten, den Menschenrechten und der Transparenz verpflichtet sind. Bei der gesetzlichen Regulierung der sozialen Medien sind wir bereits gescheitert mit fatalen Folgen für die Politik in aller Welt [...] Ein Bündnis aus Demokratien, sollte Transparenz fördern und internationale Standards festlegen,[...] 
Wir können es nicht länger zulassen, dass die Reichsten Geschäfte mit Autokratien machen und sich für deren außenpolitische Ziele einspannen lassen, während sie gleichzeitig Aufträge von demokratischen Regierungen erhalten und den Status, die Privilegien der Staatsbürgerschaft und die Rechtssicherheit der demokratischen Welt genießen.  Es ist Zeit, sie vor die Wahl zu stellen. [...]" (S. 176/77).

Mein Urteil: Ein nützliches Buch, aber indem Applebaum gar nicht auf dieselben Verleumdungsmethoden von Seiten des Westens ("Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst") eingeht, schwächt sie ihre Argumentation.
Die Aussage von Rezensenten, sie habe nicht genügend darauf hingewiesen, was man zur Verteidigung der Demokratie tun könne, lässt fast den Verdacht aufkommen, sie hätten die Seiten ab S.127 nicht gelesen. 
Einen Königsweg zur Verteidigung der Demokratie gibt es freilich in der Tat nicht. Denn fehlerlos regieren und der eigenen Bevölkerung jede Zumutung ersparen, das kann keine Regierung, das ist nicht Menschensache. 


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