Donnerstag, 25. Juli 2024

Wieso ist die Erde noch kein toter Stern

 Zur Gaia-Hypothese

DIE GESELLSCHAFT DES SUSPENSE UND DER KATECHON DER ÖKOLOGIE von Christoph Paret

"[...] Die Erdsystemwissenschaften sind nicht einfach eine Wiederauflage apokalyptischer Reden. Sie fragen weniger, wann wir untergehen werden, sondern warum die Erde nicht bereits vor Milliarden von Jahren untergegangen ist. Bruno Latour bringt es auf den konzisen Nenner: »Wie der Mars müßte auch die Erde eigentlich ein toter Stern sein. Sie ist es nicht. Welche Kraft ist fähig, dies hinauszuzögern6

Was Lovelock »Gaia« nennt, ist Resultat der Tatsache, dass das Leben sich gefangen hat: »Irgendwann am Anfang in der Geschichte der Erde, als noch kein Leben existierte, entwickelten sich das Festland, die Atmosphäre und die Ozeane noch ausschließlich nach den physikalischen und chemischen Gesetzen. Es war eine rasende Talfahrt hin zu dem leblosen, unveränderlichen Zustand eines Planeten, der sich in einem annähernden Gleichgewicht befindet. Bei ihrer wilden Jagd durch die verschiedenen chemischen und physikalischen Zustandsbereiche landete die Erde auch kurz auf einer Stufe, die günstige Bedingungen für das Leben bot. In einem besonderen Augenblick dieses Stadiums wuchsen die neugebildeten, lebenden Zellen in einem solchen Maß, daß ihr Vorhandensein den Erdraum beeinflußte. Die Sturzfahrt ins Gleichgewicht stoppte. An diesem Punkt verschmolzen Lebewesen, Steine, Luft und Meere zu einem neuen Gebilde – Gaia. Und wie wenn der Samen sich mit dem Ei vereinigt, entstand neues Leben.«

Die Welt ist, was der ausgebremste Fall ist. Was »eine rasende Talfahrt hin zu dem leblosen, unveränderlichen Zustand eines Planeten, der sich in einem annähernden Gleichgewicht befindet«, hätte werden müssen, wurde irgendwie aufgehalten. Diese wilde Passage, die »noch ausschließlich den physikalischen und chemischen Gesetzen« gehorchte, passierte auch für einen kurzen Moment das Leben oder ließ es passieren. Sie ließ das Leben zumindest zu.

Chemie und Physik können also, was die Erde anbelangt, lediglich das Schicksal beschreiben, dem die Erde entging. Für das Erdsystem sind es Wissenschaften nicht des Faktischen, sondern des Kontrafaktischen. Wenn es nach ihnen ginge, hätte es nur ein kleines Zeitfenster für geeignete Lebensbedingungen gegeben. Es sind die Lebewesen selbst, die dieses Fenster bis auf Weiteres offen halten. Das Leben ist nichts weiter als die Verlängerung dieses glücklichen Moments. »Die Bedrohung schwebt über uns für Jahrhunderte, wenn nicht für Jahrtausende«? Latour untertrieb: Zumindest das Leben verschiebt seine Deadline seit Milliarden von Jahren. [...]

Der springende Punkt soll sein, dass »sich die Atmosphäre, die Meere, das Klima und die Erdkruste aufgrund der Verhaltensweise von lebenden Organismen so regulieren, daß Leben möglich ist«. Zahllose Lebewesen hören nicht auf, jene Bedingungen künstlich herzustellen, unter denen das Leben fortgesetzt werden kann. Pausenlos türmen Kolonien von Mikroorganismen Kalkstein-Stromatolithe vor den Küsten auf und separieren Meerwasser in Form von Lagunen, wo es verdunstet, womit dem Meer giftige Salzmengen entzogen werden. Bakterien fahren fort damit, das tödliche Kalzium in unlösliches Kalziumkarbonat umzuwandeln und auf den Meeresboden herabregnen zu lassen.

Unentwegt synthetisieren Meereslebewesen chemische Verbindungen, mit deren Hilfe die Elemente durch die Luft zurück an Land befördert werden können. Fortgesetzt sind Pflanzen damit beschäftigt, die Luft mit Sauerstoff anzureichern und zugleich eine Spur kohlenstoffhaltigen Materials rechtzeitig vor seiner Reaktion mit Sauerstoff in die Sedimente einzuschließen, womit der Sauerstoffanteil unterm Strich zunimmt. Fortwährend verbindet sich der Sauerstoff mit Wasserstoff zu dem Wasser, das zu schwer ist, um in den Weltraum zu entfliehen. Unaufhörlich spinnt das Leben den seidenen Faden, an dem es hängt. [...]

Die Vorstellung des Wunders, das Gesetzmäßigkeiten durchbricht, verkehrt sich in die Vorstellung des Wunders der Konstanz selbst. Lovelock: »Genauer ausgedrückt besagt die Gaia-Hypothese, daß die Temperatur, der Oxidationszustand, der Säuregehalt und bestimmte Aspekte von Gesteinen und Gewässer zu jeder Zeit konstant bleiben und daß sich diese Homöostase durch massive Rückkoppelungsprozesse erhält. Diese Prozesse werden von der Lebenswelt unwillkürlich und unbewußt in Gang gesetzt.«

Eine ganze Reihe von Parametern bleiben »zu jeder Zeit konstant«, ohne dass sich zu ihrer Erklärung anführen ließe, dass es Naturkonstanten sind. Stattdessen erweist sich ihre Beständigkeit als prekäre Angelegenheit und als Ergebnis »massiver Rückkoppelungsprozesse«. In welcher bisherigen Theorie wäre die Permanenz jemals weniger garantiert gewesen als hier? Wo hätte sie sich zugleich länger behauptet? Wunder einer Millionen Jahre währenden Stetigkeit! Könnte es sein, dass uns das Nachdenken über den permanenten Ausnahmezustand blind gemacht hat für den Ausnahmezustand der Permanenz selbst?

Schließlich: Aus der Vorstellung eines Gottes, der erhaben über den Dingen thront und sich zu schade dafür ist, sich um jede Kleinigkeit zu kümmern, wird die fortgesetzte Kümmerarbeit gerade der Kleinsten. Alexander von Aphrodisias an der Wende zum 3. Jahrhundert: »Auch die Sorge, die ein Mensch für die Dinge in seinem Haus trägt, reicht nicht so weit, daß er sich noch um die Mäuse, die Ameisen und all die anderen sonst noch vorhandenen Dinge kümmern könnte.«

In Gaia fällt diese Sorge um das Haus nun aber den Mikrolebewesen zu. Lovelock: »Manchmal, in Augenblicken überschwänglichen Mitgefühls mit dem Leben auf Erden, […] übernehme [ich] die Rolle als ›gewerkschaftlicher Vertrauensmann‹ für die Mikroorganismen und die geringeren, unterrepräsentierten Lebensformen. Sie waren es, die diesen Planeten über 3,5 Milliarden Jahre hinweg lebensfähig erhalten haben. Die Streicheltiere, die Wildblumen, die Menschen, sie alle verdienen Beachtung. Und doch wären sie ein Nichts ohne die weitläufige Infrastruktur der Mikroben.« [...]

Das ist jetzt wieder unsere Wahl: entweder »Lähmung alles menschlichen Geschehens« angesichts der Apokalypse oder Lähmung des apokalyptischen Geschehens selbst. Übertragen auf das Anthropozän lässt sich die aktive Vertagung der Apokalypse als der Versuch identifizieren, die Mikroorganismen weniger als »gewerkschaftlichen Vertrauensmann« (Lovelock) zu repräsentieren, als es ihnen gleichzutun in ihrer unermüdlichen Tätigkeit, den Planeten lebensfähig zu erhalten.

Noch vor geraumer Zeit hätte man darin vielleicht nur die Verteidigung des Status quo erblickt. Doch erstens entspricht dem Minimalismus des Ziels, keinen ökologischen Fußabdruck zu hinterlassen, ein Maximalismus der Mittel (die Umstellung der Konsum-, Ernährungs-, Kleidungs- und Heiz- und Mobilitätsgewohnheiten): Wahrscheinlich war die Sentenz Giuseppe Tomasi di Lampedusas niemals zutreffender als jetzt: »Alles muss sich ändern, damit alles so bleiben kann, wie es ist.«

Zweitens können wir nun wissen, dass nichts unwahrscheinlicher ist als die Erhaltung des Status quo. Welches menschliche Vorhaben in der Geschichte könnte man benennen, das auch nur annähernd so ambitioniert war wie die Anstrengungen der Mikroben, Tag für Tag die Welt in ihrem unnatürlichen Gleichgewicht zu halten? [...]"

Merkur Heft 903 August 2024

Kurzfassung der Gaia-Hypothese (Wikipedia)

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