Brief an eine afghanische Schriftstellerin: Kampfansage an die Umstände
FR 11.8.22
Afghanische Autorin Fatema: Wenn „gut gehen“ bedeutet „am Leben sein“– ja, dann geht es mir gut FR 14.8.22An dem Tag, an dem wir mit Tausenden anderen Familien in unser geliebtes Land zurückkehrten und den Boden dort küssten, fühlte ich mich, als wäre ich ein zweites Mal geboren worden. Die ersten Tage nach der Einreise waren hart. Wir hatten keinen Zugang zu Trinkwasser und keinen Strom. Die nächste Schule und das nächste Krankenhaus waren kilometerweit von uns entfernt und da es keinerlei Verkehrsmittel gab, mussten wir alle Wege zu Fuß laufen. Aber Liebe war da, und wichtiger noch als Liebe: Hoffnung.
Die ersten zehn Jahre in der Republik Afghanistan waren schwer für mich. Da auch meine Familie der traditionellen Kultur Afghanistans unterworfen war, musste ich die Schule abbrechen. Erst in meinen Zwanzigern konnte ich wieder eine Schule besuchen und trotz enormer Schwierigkeiten sogar arbeiten. Ich hatte gerade begonnen, Pläne für meine Zukunft zu schmieden und mir überlegt, in welchem Land ich mein weiterführendes Studium aufnehmen könnte, als ...
An dem Tag im August, an dem die Regierung fiel und ich die Bilder Tausender meiner Landsleute sah, die in die Berge an die Grenze zum Iran flohen, sind mein Stolz und meine Hoffnungen in sich zusammengefallen.
Ob ich denn nicht bald heiraten möchte, wurde ich vor ein paar Tagen in einer Runde von meinen Freundinnen gefragt. Ich hätte weinen können. Vor dem Fall der Regierung habe ich keinen einzigen Gedanken ans Heiraten verschwendet. Mein Studium hatte für mich bisher immer oberste Priorität. Aber jetzt, da alles so unerreichbar für mich geworden ist, ist eine Heirat vielleicht die einzige Option, die ich noch habe.
In den Jahren, in denen man mir meine Ausbildung verweigerte, träumte ich fast jede Nacht, ich sei in der Schule. Jetzt bin ich mir sicher: Wenn man mich dazu zwingt, zu heiraten und eine Familie zu gründen, werde ich jede Nacht davon träumen, mein Studium in einem anderen Land fortzusetzen oder dort an einer anerkannten Institution zu arbeiten.
Bevor die Regierung Afghanistans fiel, habe ich jedes Mal, wenn ich einen Konvoi von Militärfahrzeugen gesehen habe, für das Leben der Soldaten gebetet. Ich habe gebetet, sie mögen gesund aufbrechen und gesund zurückkehren und ich war stolz. Wenn ich jetzt diese Fahrzeuge sehe, die von Taliban gelenkt werden, kommen mir als erstes all die Soldaten, die im Kampf gegen die Taliban getötet worden sind, in den Sinn.
Du glaubst es mir vielleicht nicht, aber in den letzten Tagen vor dem Sturz Afghanistans haben sie in unserem Bezirk beinahe täglich einen dieser Märtyrer begraben und der Friedhof bei uns war fast vollständig mit Landesfahnen übersät, die sie auf die Gräber gefallener Soldaten stecken.
Mir geht es nicht gut. Ich bin sehr wütend. Auf mich und auf alle. Auf meine Landsmänner und -frauen, die die Regierungsgeschäfte stillschweigend anderen überließen, auf die Soldaten, die aufgegeben und auf die hochrangigen Staatsmänner, die unser Land verkauft haben und sich in Interviews jetzt fortwährend so inszenieren, als trügen sie keine Schuld. Selbst die Professoren meiner Universität waren an diesem Verrat beteiligt. Während meiner Studienzeit habe ich vor Ashraf Ghani gewarnt, ihn in den Seminaren einen untauglichen Präsidenten genannt, aber meine Professoren haben immer bloß auf seine hohe Bildung und die langjährige Erfahrung als Politiker und die Kompetenzen seiner Berater verwiesen. Mich behandelten sie, als verstünde ich nichts von Politik und läge mit meinen Analysen falsch. Jetzt haben sowohl die Staatsmänner als auch meine Professoren das Land verlassen. [...]"
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