Wolfgang Koeppen: Das Treibhaus
"Die Hauptfigur ist der Mittvierziger Felix Keetenheuve, Journalist in der Weimarer Republik, während der Zeit des Dritten Reichs vorwiegend in England im Exil und dort für Rundfunksendungen Richtung Deutschland eingesetzt. Nach 1945 kehrt er nach Deutschland zurück und wird Bundestagsabgeordneter für die SPD. Zu Beginn des Romans reist Keetenheuve mit dem Zug nach Bonn, wo im Parlament die entscheidenden Abstimmungen zur Westintegration der jungen Republik stattfinden sollen. Er hat gerade seine junge Frau Elke beerdigt. Deren Eltern hatten sich bei Kriegsende umgebracht, weil der Vater Gauleiter der NSDAP war. Keetenheuve hatte Elke zugunsten der Politik vernachlässigt. Deswegen war sie dem Alkohol verfallen, wie er sich nun vorwirft.
Keetenheuve ist – nicht nur aufgrund des erlittenen Verlustes – verstört und unsicher. Er ist ein kompromissloser Intellektueller, ein Schöngeist, der der Lyrik von E. E. Cummings und Charles Baudelaire mehr abgewinnen kann als einem bürgerlichen Lebensstil. Aufgrund seines Exils ist er das Aushängeschild seiner Partei, gleichzeitig dort aber genauso isoliert wie im gesamten Parlament: die pragmatische Arbeit der Abgeordneten ist ihm zuwider, den Fraktionszwang lehnt er ab, besteht darauf, sich in eigener Verantwortung zu entscheiden. Er sieht die alten Eliten aus der Weimarer Republik und der Nazizeit wieder nach der Macht greifen. Exnazis und Mitläufer sitzen bereits wieder an den entscheidenden Positionen." (Wikipedia)
Zitat:
"Erich war umgekommen. In der kleinen Stadt hatte man später eine Straße nach ihm genannt; aber die Leute, stumpfsinnig, engherzig, vergeßlich wie eh und je, nannten die Gasse weiter die Kurze Reihe. Keetenheuve fragte sich immer wieder, ob Erich wirklich für seine Überzeugung gestorben war, denn er musste den Glauben der Jugend damals schon verloren haben. Vielleicht aber hatte Erich sich im Augenblick seines Todes wieder zu dieser Hoffnung bekannt, und das nur, weil die Menschen der kleinen Städte in jenen Tagen/ gar so entsetzlich waren. Die Gesetzlosigkeit schlug Erich auf dem Markt, aber der Ekel war es, der ihn tötete. [...] Keetenheuve [...] er war unschuldig, ganz unschuldig am Lauf der Welt, aber gerade weil er unschuldig war, stand vor ihm die uralte Frage, was ist Unschuld, was Wahrheit, o alter Statthalter des Augustus. Er sah sich im Spiegel.
Die Augen, der Brille ledig, blickten gutmütig, und einen gutmütigen Trottel hatte in der Kollege vom 'Volksblatt' genannt, am letzten Abend, als er ihn zum letzten Male sah. Das war vor zwanzig Jahren gewesen, an dem Tag, an dem der Kommissar in das 'Volksblatt' einzog. Die jüdischen Redakteure flogen gleich, kluge Leute, gewandte Leitartikler, hervorragende Stilisten, die alles falsch vorausgesehen, alles falsch gemacht hatten, ahnungslose Kälber im Gatter des Schlachthofes; die anderen bekamen die Chance, sich zu bewähren. Keetenheuve verzichtete auf die Bewährung. Er holte sein Gehalt und reiste nach Paris. Er reiste freiwillig, und niemand hinderte ihn. In Paris fragte man verwundert: Was wollen Sie eigentlich bei uns? Erst als die Soldaten über die Champs Élysées marschierten, hätte Keetenheuve es erklären können. Aber da war er auf dem Wege nach Kanada: zusammen mit deutschen Juden, zusammen mit deutschen Antifaschisten, deutschen Nationalsozialisten, jungen deutschen Fliegern, deutschen Seeleuten und deutschen Handlungsgehilfen schwamm er tief unten im Bauch eines Schiffes von England nach Kanada. Der Kommandant des Dampfers war ein gerechter Mann; er haßte sie alle gleichermaßen. Und Keetenheuve war es nun, der sich fragte: was will ich hier, was tue ich hier, nur nicht teilhaben, nur die Hände in Unschuld waschen, ist das genug?
Keetenheuves Kopf saß, wo er hingehörte, kein Fallbeil hatte ihn vom Rumpf getrennt. Sprach das gegen Keetenheuve oder sprach es, wie einige meinten, gegen die Gewerkschaft der Henker in der Welt? Keetenheuve hatte viele Fein/de, und es gab keinen Verrat, dessen man ihn nicht zieh. So hätte mich Georges Grosz gemalt, dachte er. Sein Gesicht trug nun schon sehr den Ausdruck der herrschenden Schicht er war des Kanzlers Abgeordneter und Oppositioneller in Ergebenheit; ach ja, in Ergebenheit.
Halbakt eines Managers – so stellte ihn der Spiegel dar. Spieeglein Spiegelein an der Wand, fleischig war er nun, die Muskeln ungeübt, die Haut schimmerte weiß mit einem blauen Unterton wie Magermilch in den Kriegen, entrahmte Frischmilch hieß es, oh schönes Wort des staatlichen Euphemismus, man zählte zu den Gemäßigten, man fand sich ab, man richtete sich ein, man vertrat behutsame Reformen im Rahmen der Tradition, man hatte Kreislaufstörungen und war lüstern (kiss me) you will go. Er war ein stattlicher Mann, er verdrängte mehr Luft, als er je erwartet hatte, Luft zu verdrängen." (S. 28-31)
"Keetenheuve wird instrumentalisiert, zum einen von seinem Fraktionsvorsitzenden Knurrewahn (steht für Kurt Schumacher), der ihn als Redner in die Debatte schickt, um die pazifistische Fassade der Partei zu wahren, ihm aber gleichzeitig Verhaltensmaßregeln mitgibt sowie die Bemerkung, dass man ja nicht grundsätzlich gegen die Wiederbewaffnung sei. Zum zweiten aber auch von der Parlamentsmehrheit und ihrem fast autoritär regierenden Kanzler (Konrad Adenauer), die Frost-Forestier, ein wichtiges Mitglied der Regierung, wenn auch ohne Amtsbezeichnung (Reinhard Gehlen?), auf ihn ansetzt, um ihm das Amt eines Botschafters in Guatemala anzubieten und den Störfaktor Keetenheuve damit endgültig ins Abseits zu schieben. Und schließlich zum dritten von einem den Westmächten nahestehenden Journalistenkollegen, der ihm vertrauliches Material zur Verwendung in seiner Rede zukommen lässt, dies aber gleichzeitig auch der Gegenseite aushändigt, so dass in dem Moment, in dem Keetenheuve seinen Auftritt hat, bereits die Stellungnahme der westdeutschen Regierung ebenso wie die ihr den Rücken stärkenden Stellungnahmen der Westmächte vorliegen – und Keetenheuves Rede damit nichts mehr wert ist. Am Ende der Debatte weiß Keetenheuve, dass er verloren hat. Wie schon am Abend zuvor irrt er noch einmal durch die nächtliche Stadt und erreicht schließlich die Brücke über den Rhein. Mit dem Satz »Der Abgeordnete war gänzlich unnütz, er war sich selbst eine Last, und ein Sprung von der Brücke machte ihn frei« endet der Roman." (Wikipedia)
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