Antisemitismus: „Juden werden als weiße europäische Kolonialisten wahrgenommen“ FR 14.6.22 Harry Nutt interviewt Natan Sznaider
"[...] Dass die Documenta beschlossen hat, die aktuelle Ausstellung im Zeichen des globalen Südens auszurichten, ist an sich nicht sonderlich aufregend. Wenn man sie jedoch ganz ausdrücklich im Rahmen eines postkolonialistischen Diskurses positioniert, wird es hochpolitisch, erst recht in Bezug auf Israel. Seit Edward Saids 1978 und 1979 erschienenen Büchern „Orientalism“ und „The Question of Palestine“ ist der postkolonialistische Diskurs explizit antiisraelisch. Juden werden als weiße europäische Kolonialisten wahrgenommen. So gesehen ist postkolonialistisch orientierte Kunst eine, die sich klar gegen die Ausübung jüdischer Souveränität im Nahen Osten wendet. Das hat in Deutschland gerade vor dem Hintergrund der Documenta-Geschichte eine besondere Brisanz.
Worin besteht sie genau?
Es gibt hierzulande ein großes jüdisches Milieu, das sich mit Israel solidarisiert, nicht zuletzt weil es davon überzeugt ist, dass die eigene Sicherheit in Deutschland und Europa durch Israel garantiert wird. In diesem Milieu werden Angriffe auf Israel mit Angriffen auf ihr jüdisches Leben selbst gleichgesetzt. Auf der anderen Seite hat sich ein sogenanntes weltoffenes Kulturmilieu etabliert, das sich ganz bewusst entprovinzialisieren möchte. Man will nicht mehr deutsch, sondern europäisch sein. Und als Europäer sind sie bereit, mit deutschen Tabus zu brechen, deren Akzeptanz lange als selbstverständlich galt, etwa die historische Einzigartigkeit des Holocaust. Zu diesem neuen Selbstverständnis gehört auch die Kritik an Israel, die nun als weltoffen gilt. Daraus sind neue Widersprüche entstanden, die nun auch auf der Documenta ausgetragen werden und ganz sicher nichts mit künstlerischem Geschmack oder Ästhetik zu tun haben. [...]
Hat sich die Documenta GmbH vor der Auseinandersetzung mit dem Thema BDS weggeduckt?
Wenn man guten Willens ist, könnte man ihr zumindest Naivität attestieren. Vielleicht war man geneigt, in bester Absicht progressiv, woke und dem globalen Süden gegenüber aufgeschlossen zu sein. Dabei ist allerdings das wichtigste Merkmal des postkolonialistischen Diskurses vergessen worden: Kontextualisierung. Herkunft, soziales Gefälle, Sprecherposition – alles ist bedeutend. Bei der Documenta scheint man aber davon ausgegangen zu sein, dass die Ausstellung auf einem globalen Mond stattfindet und nicht in der deutschen Provinz. Ich vermute, dass dieses Missverständnis sehr viel mit einer neu entstandenen deutschen Kulturelite zu tun hat, die nicht mehr deutsch sein will. Die Kunst dient da gewissermaßen als Katapult für einen ideellen Befreiungsschlag. Mit der Bezugnahme auf postkoloniale Narrative meinte man wohl, sich der eigenen Geschichte entledigen zu können. [...]"
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