Mittwoch, 4. November 2020

K. Tuil: Menschliche Dinge

Karine Tuil: „Die menschlichen Dinge“ (Original: Les Choses humaines)
 "Unmittelbar inspirieren ließ Tuil sich von einem Vergewaltigungsfall an der amerikanischen Eliteuniversität Stanford, der 2016 für Empörung sorgte, weil der Täter mit einer in vielen Augen zu milden Strafe davonkam, das Opfer in einem Blogeintrag seine Sicht der Dinge öffentlich machte und sich fortan zwei Lager gegenüberstanden. Bei Karine Tuil heißt dieser junge Mann Alexandre. Aus seiner Perspektive ist das Geschehen in jener Nacht geschildert, in der er mit Mila in einer Pariser Seitengasse hinter einer Mülltonne verschwindet und mit ihr schläft. Sie ist scheu und unerfahren, und Alexandre benutzt sie, um eine „Challenge“ zu gewinnen: Wer ein Mädchen verführt und zum Beweis dessen Slip mitbringt, hat gewonnen. Dass das schäbig ist, weiß Alexandre. Dass der Sex einvernehmlich war, glaubt er trotzdem bis zuletzt. 
Denn so wie Karine Tuil den Fall aufbereitet, steht im zweiten Teil ihres Buches, der sich wie ein Justizkrimi liest, bald Aussage gegen Aussage. Eine Wahrheit lässt sich nicht ermitteln, stattdessen stehen sich zwei Wahrnehmungen desselben Geschehens diametral gegenüber. Was er als erotische Handlung bezeichnet, wirkte auf sie wie eine Geste der Gewalt. [...]" 
(Ihm ist’s Erotik, ihr nur Gewalt von LENA BOPP, FAZ 4.11.2020)

Lena Bopp kritisiert an dem Roman, dass die Figuren völlig von ihrem Milieu bestimmt sind und kein Eigenleben haben.
Was im Naturalismus um die Jahrhundertwende von 1900 die große Entdeckung war, erscheint ihr jetzt als die entscheidende Schwäche. Wie der Leser es sehen wird, kann er nicht wissen, ohne zumindest einen Teil des Romans gelesen zu haben.

Ich für mein Teil vermute zwar, dass der Hinweis auf das Dilemma so wichtig ist, dass eine fehlende Individualisierung der Personen demgegenüber nicht entscheidend ins Gewicht fällt. - Aber ich kann es nicht wissen.

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