Die Truppen der Französischen Republik drangen 1798 ind die Schweiz ein, um sie zu "befreien".
"Als im Frühjahr 1798 die fünfhundertjährige schweizerische Eidgenossenschaft unterging durch die schuldvolle Ratlosigkeit der alten Regenten, durch ihre leichtfertig verspäteten Zugeständnisse, durch die Unwissenheit und Unverständigkeit der Revolutionäre und ihren sittlichen Mangel an nationalem Selbständigkeitsgefühl, endlich durch den gewissenlosen Einbruch eines sogenannten französischen Befreiungsheeres [... gaben alle Kantone gegenüber der Übermacht auf]
Nur das grünschattige Nidwalden am tiefen Waldstättersee hielt zuallerletzt ganz allein an sich selber fest, verlassen sogar von seiner Zwillingshälfte Obwalden. Ein Völklein von kaum zehntausend Seelen, konnte und wollte es nicht glauben, daß es ohne die äußerste unbedingte Aufopferung von seiner halbtausendjährigen Selbstbestimmung lassen und in der Menschen Hand fallen solle, ohne vorher zu Boden geworfen zu sein im wörtlichsten Sinne. Alle Weltklugheit, alle Vernunftgründe für leibliche Erhaltung verschmähend, stellte es sich auf den ursprünglichen Boden reiner und großer Leidenschaft, nicht für eine Tagesmeinung, sondern für das Erbe der Väter, für Menschenwert so recht im einzelnen, von Mann zu Mann. Drei Dinge werden hauptsächlich geltend gemacht, um diese Erhebung von zweitausend waffenfähigen Männern gegenüber nicht nur der übrigen Schweiz, sondern der »großen Nation«, die soeben Europa besiegt hatte, zu verdammen: erstens die Hoffnung auf östreichische Hilfe, zweitens der religiöse Fanatismus und der Einfluß der Priester und drittens eben die gänzliche Hoffnungslosigkeit des Aufstandes. Allein was den ersten Vorwurf angeht, so trifft der Fluch nicht den, welcher den zweiten Fremden ins Land wünscht, sondern den, welcher den ersten hereingerufen hat. Was den zweiten Punkt anbelangt, war es Tatsache, daß die Franzosen, welche die Verfassung ins Land gesendet, ihre Kirchen geschlossen und die Priester vertrieben hatten; Grund genug, wenn man unparteiisch sein will, für die Zukunft Ähnliches zu fürchten. Dies Völkchen in seinem todesmutigen Entschlusse faßte eben alles zusammen: die geistliche und weltliche Existenz, wie sie ihm Ehrensache war. Das beste Sinnbild für diese Stimmung sind jene nidwaldenschen Jungfrauen, welche die Waffen und den Tod wählten, um Religion, Heimat, Freiheit und die persönliche jungfräuliche Ehre, alles wie einen einzigen Begriff, zu retten. [...]
Auf all den Schlachtfeldern der Schweiz, Italiens und anderwärts, wohin die Nidwaldner ihre Leute gesandt, hatten sie durch die Jahrhunderte bis zur Stunde noch nicht tausend Mann verloren, und fast jeder einzelne, der gefallen, war wohlbekannt gewesen und in den Jahrzeitbüchern verzeichnet. Heute verloren sie die größte Zahl, und das Tausend wurde voll; aber es fielen an diesem Morgen über zweitausend Franzosen, mehr als die Unterwaldner Streiter zählten.
Um Mittag war der Widerstand vorüber, die Männer schlugen sich fechtend durch, und die Franzosen, wütend über diesen Widerstand, begannen das bekannte Morden der Frauen, Greise, Kranken und Kinder und füllten das grünschattige Land mit Asche und Trümmern, die nach sechs Jahren noch zu sehen waren. [...] Da kam über einen Kreuzpfad her ein einzelner Franzose gelaufen, welches niemand als unser Peter Dümanet war, wie betrunken und seltsamer ausstaffiert als je. Er hatte anfänglich wohlmeinend das Land betreten und mit gemäßigter Fechtart diese Störrigen und Unwissenden zur Freiheit führen wollen. Bald aber, als er mit Tausenden, von wenigen Männern zurückgeschlagen, nur mit großem Verlust wieder vordringen konnte, als er selbst zu sechs und sieben vor einem einzelnen weichen mußte, als er an die zwanzig Jungfrauen zu Winkelried tot in einer Reihe liegen sah, auf ihren blutigen Sensen, drehte sich sein Verstand um, und er durchraste ohne Besinnung Tal und Höhen, so daß er sich verlor und am Bürgenberge verirrte. Sein Hut war mit geraubten Silberpfeilen aus den Haaren der Nidwaldnerinnen besteckt, sein Tornister mit abgeschnittenen Zöpfen, mit den roten oder weißen Bändern durchflochten, behangen, und um den Hals trug er eine Anzahl silberner Göllerketten. Mit einem Sprunge stürzte er sich auf den daherschwankenden Aloisi, setzte ihm das Bajonett auf die Brust und erklärte ihn zu seinem Gefangenen, der ihm den Weg über den Berg weisen solle; auch gab er ihm ein ziemlich schweres Säckchen zu tragen, welches er an seinem Säbelgriff hängen hatte. Aloisi gehorchte geduldig und ging vor ihm her, nachdem ihm der Franzose den Büchsenlauf genommen und weggeworfen hatte. Denn er überlegte sofort, daß er so am besten gleichzeitig mit dem Feind sein Haus erreiche. So mühte er sich denn ab, vor demselben herzugehen, wobei Dümanet ihn von Zeit zu Zeit mit dem Kolben sachte vorwärts stieß. In einem Hohlweg, der zwischen prächtigen Buchen hinführte, stießen sie auf einen toten Franzosen. Mit einem Fluche stieß Dümanet seinen Führer über die Leiche hinweg, als sie es nicht weit von da purpurrot durch das goldene Abendgrün der Buchen leuchten sahen. Auf dem grünen Sammet des Mooses gebettet, das den ganzen Pfad überzog, lag Allwegers Frau da mit erblaßtem Gesichte, von der niedergehenden Sonne überstrahlt. Ihr roter Rock, ihre roten Strümpfe zeichneten ihren schlanken Wuchs; ihr mit Seidenblumen reich gesticktes Brustkleid war von Bajonettstichen zerrissen und durchbohrt, gleich einem Rosengärtchen, das durchgepflügt worden ist; aber die mit blauen und roten Steinen besetzten Ketten und Spangen hingen noch darum, das Haar war noch fest geflochten und wie eben erst aufgebunden, der Pfeil, in dessen Glassteinen ebenfalls die Abendsonne blitzte, steckte noch darin, sie war also unberaubt und hatte sich wahrscheinlich gegen mehrere verteidigt, von denen der vorher tot Gefundene einer gewesen.
Aloisi erkannte seine Frau augenblicklich, wie sie am Eingange des Waldes hoch über dem See lag, der unten dämmerte, und im Angesicht der stillen Gebirge. Er zitterte bis in das innerste Leben hinein, aber er tat nicht, als ob er die Leiche sehe, und wollte vorüberschwanken. Doch der Franzose schrie: »Halt!« Er hatte eine neue Art von Trophäe entdeckt, die er noch nicht besaß, nämlich die Sonntagsschuhe der Klara, welche, sonst ziemlich fein, nach damaliger Sitte mit hohen eisernen Absätzen, sogenannten Tötzeli, versehen waren. Schnell streifte er sie der Toten von den Füßen und gab sie hastig dem armen Aloisi zu halten, um auch noch den übrigen Schmuck zu nehmen. Kaum aber hatte Aloisi Allweger die teuren Schuhe in der Hand, so durchströmte ihn seine letzte Kraft. Er faßte den Franzosen unversehens am Kragen, schlug ihm die Schuhe mit den eisernen Absätzen so gewaltig über das Haupt, daß er sofort zusammensank, und stieß ihn unverweilt über den Berg hinaus, daß er turmhoch mit all seinem Schnickschnack in den tiefen See fiel und ohne einen Laut untersank. Gleich darauf lag Aloisi bewußtlos über seiner toten Frau und wurde am andern Tage, als durch das Eintreffen Schauenburgs wieder einige Menschlichkeit herrschte, für tot gefunden. Er kam jedoch mit dem Leben davon und lebte, nach vielerlei Schicksalen, noch lange Jahre, aber in sich gekehrt und traurig.[...["
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