Hans-Jochen Gamm: „Kritische Schule“ – Eine Streitschrift für die Emanzipation von Lehrern und Schülern; Paul List Verlag,München; 254 S., 12,80 DM
Rezension von Hans Krieger: Die pädagogische Herausforderung, ZEIT 21. August 1970
Krieger zitiert Gamm:
„Zentraler Gegenstand der Pädagogik als Wissenschaft ist ... der Emanzipationsprozeß selbst.“ und fährt fort: "Gamms Vorschläge zur Sexualpädagogik gipfeln in der Forderung, daß die Schule nicht länger ein „asexueller Raum“ sein dürfe, sondern den „Austausch über die Freuden der Geschlechtlichkeit“ in ihr Programm aufnehmen müsse und Möglichkeiten erotischer Erfahrung zumindest nicht ausschließen sollte. [...] Das „Lernen der Liebe“ wird hier zitiert als Beispiel für ein Konzept der Schule, das sich an den Bedürfnissen der Schüler orientiert; es wird ganz verständlich erst im Gesamtrahmen eines Erziehungsmodells, das den nachwachsenden Generationen nicht die Kulturmuster der Vergangenheit aufprägen, sondern ihre eigene Produktivität freisetzen will und solche Freisetzung als sozialen Prozeß versteht. [...] Die prinzipiell nie restlos erfüllten Leistungsnormen erzeugen Gewissensdruck und Angst, halten das Individuum manipulativer Außensteuerung offen, machen es dem Leistungsterror der Gesellschaft gefügig und bereit, sich bestehenden Herrschaftsstrukturen fraglos zu unterwerfen. „Die heutige Schule produziert Untertanen, die es im Laufe ihres Lehrganges gründlich gelernt, das heißt internalisiert haben, ihre besten Fähigkeiten für die Wahrnehmung zu entwickeln, daß man ,von oben‘ etwas von ihnen wolle und erwarte.
Kritik an der Leistungsideologie wird damit zum entscheidenden Hebel. Politisch: In Leistungsdruck und Prüfungsanspruch aktualisiert sich gesellschaftlicher Anpassungszwang; mit ihnen „ragt .. die Frühgeschichte der Menschheit fossilienhaft in einen modernen Sozialbereich hinein, der unter humanen Regeln zu stehen vorgibt“. Ein wertneutraler Leistungsbegriff korrespondiert gesellschaftlicher Entfremdung; „Leistungsbereitschaft ohne kritische Sozialtheorie ... trägt immer schon faschistoide Züge“. Pädagogisch: „Die Leistungsideologie der Schule macht dumm, weil sie die differenzierten Individuationsprozesse im Schüler nicht fördern kann, die von den gangbaren Schneisen abweichen.“ Soziologisch: Die Gesellschaft der zweiten industriellen Revolution bedarf „anderer Fähigkeiten, die am besten mit einer sozialen Variabilität zu pauschalieren wären“. Psychologisch: die hochgezüchtete Konkurrenz individueller Leistung zerstört die Basis solidarischer Kooperation.
Damit mündet die Argumentation ins Politische zurück: In einem neuen kooperativen Leistungsmodell schafft die Schule das kritische Instrument, den dissoziierenden individualistischen Leistungsbegriff als Unternehmerideologie im Dienst der Ausbeutung zu entlarven, und bereitet gesellschaftliche Solidarität vor.“
Die Formulierung „Leistungsbereitschaft ohne kritische Sozialtheorie ... trägt immer schon faschistoide Züge“ glaubt man schon von Adorno zu kennen. Ob Krieger hier ganz sauber zitiert hat? Unabhängig davon: Gamms Vorstellungen scheinen mir noch so aktuell und die Ausführungen Kriegers so informativ, dass ich mir erlaubt habe, sie ausführlich zu zitieren.
Mit der Formulierung "Aus der Autoritätsfigur des Lehrers, die den Vollzug staatlich verordneter Erziehungsprogramme garantiert, wird der „Pädoexperte“, der den Schüler im selbstverantworteten Bildungsgang berät." sieht Krieger Gamm schon auf einem Weg, der heute mit der Vorstellung von Selbstmanagement und vom persönlichen Lernnetzwerk wieder neu entdeckt zu werden scheint.
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