Donnerstag, 13. Juni 2024

1990 aus der Sicht von 2024

 Christa Wolf in ihren Tagesberichten von 1989 und 1990:


1989 berichtet sie von einem Bekannten Otl Aicher (Schwager von Sophie und Hans Scholl) und den Hoffnungen, die er sich angesichts des ruinösen Zustandes der DDR und dem engagierten Willen der Bevölkerung zur Veränderung macht. Wenn man nicht zu schnell vorgehe, könne der Umbau der DDR bis 2000 gelingen und zum Vorbild für die BRD werden.

1990 berichtet sie, dass ihre Tochter als Mitarbeiterin der neuen Regierung der DDR unter Lothar de Maiziere optimistisch ist und ihrer Mutter Christa empfiehlt, an das Gute zu denken, was sie im letzten Jahr erfahren hat. Christas Wolfs Mann Gerhard erinnert sie an die Anerkennung, die sie erfahren hat. Die bedeutet ihr nichts. Dann aber denkt sie an ihre Arbeit in einer Kommission zur Aufdeckung von Übergriffen der DDR-Sicherheit auf Demonstranten vor dem 40. Jahrestag der DDR. Sie hat da viel Schlimmes (was damals geschehen ist) erfahren müssen, aber erstaunlich effektive Zusammenarbeit von den unterschiedlichsten Leuten erlebt. Diesen Geist der Zusammenarbeit erlebt sie ausgesprochen positiv.

Dieser Tagebucheintrag beschreibt, was ich abstrakt schon wusste und hat mich daher bei der ersten Lektüre nicht sehr beeindruckt. Bei der 2. Lektüre fallen mir die Hoffnungen eines engagierten Westlers und die positiven Emotionen von Christa W. bei der Aufdeckung des Unrechts auf. 
Beide Hoffnungen von 1990 wurden in der Zeit bis heute grausam enttäuscht. Aber, was bleibt, ist, dass nicht die Erfolge, sondern die Arbeit für ein sinnvolles Ziel die stärksten positiven Emotionen wecken. 
Ohne dass ich 1990 aus der Sicht von 1989 und 1989 aus der Sicht von 1990 gesehen habe, wäre mir das nicht so deutlich geworden. 

Hier ein paar wörtliche Zitate aus dem Eintrag vom 27.9.1990:
"Schreib alles auf, sagte er noch. Was man nicht aufschreibt, vergisst man. Du sollst das nicht vergessen. [...] In meinem Kalender finde ich, daß wir am 12. Mai an Brechts und Helene Weigels Gräbern auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof standen und Blumen niederlegten. Ihre Grabsteine waren mit Nazisymbolen und der Schmähung 'Saujud' beschmiert worden. Ich wollte mir nicht eingestehen, daß auch dies nun zur Normalität gehören würde." (S.464)

"Unverhohlen verlangte man meinen Schuldbekenntnis als Entreebillet in die westliche Medienlandschaft." (S.465 oben)

"Natürlich handelt es sich um eine Kampagne gegen Sie. Natürlich geht es gar nicht um Ihre Vergangenheit, sondern um Ihre Aktivitäten in der Gegenwart. Das stört. Und natürlich soll bei Ihnen alles, was einen an Hauch von links hat, zerschlagen werden. Die DDR muss unbedingt delegitimiert werden. (S.465 unten)

"Merkwürdigerweise bringt die Art und Weise, wie die Wiedervereinigung betrieben wird, vorher sehr DDR-kritische Leute dazu, sich jetzt gegen die undifferenzierte Verdammung zu wehren. (In der NZZ las ich, dass man 'Reagans Reich des Bösen' nun auch in der DDR ausmachen könne!)" (S.467/468)


Heute klagt man, die AfD betreibe "Delegitimierung des Staates" Damals betrieb die Delegitimierung der DDR  und unterstellte der vorher hochgelobten Christa Wolf, sie sei Staatsdichterin der DDR gewesen.

Mit dem Kampf gegen die AfD meint man vielleicht gar nicht so sehr deren "Faschismus" [den gibt es natürlich] als deren Delegitimierung der BRD durch Kritik.
Kritik, die aus dem Mund der AfD eine Unverschämtheit ist, aber aus dem Mund der damaligen DDR-Bewohner und heutigen AfD-Wähler berechtigte Kritik an der Bevormundung durch einen Staat ist, der als Wohltat (die bittere Medizin, die zu "blühenden Landschaften" führen sollte) das bezeichnete, was im eigenen Interesse (dem Interesse der westdeutschen Unternehmen) war. 
Ähnliches geschah bei Verdrängung Gorbatschows durch Jelzin, die zur Herrschaft der Oligarchen und von da zu Putin führte.



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