Mittwoch, 25. Oktober 2023

Avi Primor: "... mit Ausnahme Deutschlands"

 Avi Primor: "... mit Ausnahme Deutschlands"

"Gilt für alle Länder
mit Ausnahme Deutschlands

In den Pässen des jungen, 1948 gegründeten Staates Israel stand der Vermerk: "Gilt für alle Länder mit Ausnahme Deutschlands". Und so sollte es nach Ansicht der Überlebenden des Holocaust bleiben. Daß es diesen Vermerk schon lange nicht mehr gibt, ist zahllosen gutwilligen Männern und Frauen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft in beiden Ländern zu verdanken, die sich um die deutsch-israelischen Beziehungen verdient gemacht haben.

Avi Primor ist seit 1993 israelischer Botschafter in Bonn. Seine Mutter stammte aus Deutschland und emigrierte 1932 nach Israel. Sie verlor durch den Holocaust ihre Frankfurter Familie. Primor erfuhr als Kind über Deutschland so gut wie nichts. Erst nach und nach erlangte er Kenntnisse über das Land, traf mit Deutschen zusammen - mit widersprüchlichen Empfindungen.
Er beschreibt in ungewöhnlich offener Weise seine Erfahrungen mit Deutschland und den Deutschen, reflektiert drei Jahrzehnte diplomatischer Arbeit, erzählt mit viel Sinn für Humor Anekdoten und spricht über die Ängste seiner Landsleute. Vor allem aber liegt Avi Primor die gemeinsame Zukunft Deutschlands und Israels am Herzen, nicht zuletzt die wirtschaftliche Zusammenarbeit, von der er sich eine Stabilisierung des Friedensprozesses im Nahen Osten verspricht.

Zum 50-jährigen Bestehen des Staates Israel freuen wir uns, Ihnen die online-Veröffentlichung des Buches ''...mit Ausnahme Deutschlands'' von Avi Primor, Botschafter des Staates Israel in der Bundesrepublik Deutschland, präsentieren zu können.
Dieser, bislang in Deutschland einmalige Service, wurde ermöglicht durch eine innovative und großzügige Geste des 
Ullstein Verlags, Berlin." (hagalil.com)

"Avi Primor, geboren 1935 in Tel Aviv, studierte von 1952 bis 1955 Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen in Jerusalem, New York und Paris. Er war u.a. von 1993 bis 1999 israelischer Botschafter in Deutschland. Avi Primor ist Gründer des Zentrums für europäische Studien an der Universität Herzliya in Tel Aviv und leitet dort einen trilateralen Studiengang für israelische, palästinensische und jordanische Studenten." (Perlentaucher)

Obwohl seine Mutter ihre gesamte nähere und fernere Familie durch den Holocaust verloren hatte, war der kein Thema, denn sie war schon 1932 nach Israel ausgewandert. Die Engländer waren der Gegner, ("Mit den Engländern wünschte man sich weder zu befreunden noch zu vergleichen; niemand bezweifelte, daß sie eines Tages wieder abziehen würden, und dieses Ziel hatte Vorrang vor allen anderen." S.12)

Da plötzlich drohte die Gefahr, dass Palästina erobert würde. De Gaulles Soldaten haben es verhindert, indem sie Rommel bei Bir-Hakeim so lange aufhielten, bis die Engländer so weit waren, ihn bei El Alamein zu besiegen. Die verhasste Besatzung sorgte dafür, dass Primor nicht vergast wurde. 
Rommel wollte unbedingt zur SS, aber sein Vater hat es ihm verboten. Der Vater war der Feldmarschall, der Sohn der spätere Oberbürgermeister, der 1987 als "Guardian of Jerusalem" ausgezeichnet wurde.  
Dass die Ukraine sich 1654 an Russland angeschlossen hat, gehört zur Leidensgeschichte des jüdischen Volkes (S.16), weil beim Aufstand des Kosakenführers Bogdan Chmelnizkijs gegen Polen "Massaker großen Ausmaßes an Polen, Jesuiten, römisch-katholischen Geistlichen und Juden begangen wurden.

Wie viele Juden den Pogromen zum Opfer fielen, ist aufgrund der Quellenlage nicht mit Sicherheit auszumachen: Der Völkermordforscher Gunnar Heinsohn schätzte, dass zwischen 34.000 und 42.500 Menschen ermordet wurden.[1] Der in Israel lehrende Historiker Shaul Stampfer kam bei seinen Berechnungen auf 18.000 bis 20.000 Tote,[2] was etwa der Hälfte der damals in der Ukraine (Rotruthenien dabei nicht mitgerechnet) lebenden Juden entsprach.[3] „Die Grausamkeit der Kosaken setzte grauenerregende Vorbilder in die Welt.“[4] Viele Juden (möglicherweise mehr als 1000) konvertierten zur Orthodoxen Kirche, um ihr Leben zu retten.[5] Mindestens 3000 Juden verkauften die Kosaken als Sklaven in das Osmanische Reich".[2]

(Wikipedia

Wenn Völker sich befreien, begehen sie Massaker an Juden. Das lernte der kleine Avi schon in der Grundschule; denn Geschichtsunterricht bestand für Juden in Palästina in jüdischer Geschichte. Da wurden viele Weltregionen zum Schauplatz und Ereignisse ins Licht gerückt, die anderswo nicht in den Blick kamen. In der ukrainischen und russischen Geschichte ist Bogdan Chmelnizkij selbstverständlich ein Held, innerhalb der europäischen und der Weltgeschichte natürlich völlig bedeutungslos. 

Textausschnitte:

"[...] Dann kam die Zeit ihrer systematischen Vernichtung, und auch dies, so meinten wir, nahmen sie widerstandslos hin. Hatten sie in ihrer Schicksalsergebenheit wenigstens versucht, ein paar Nazis mit in den Himmel zu nehmen? Im Gegenteil, sie ließen sich willig wie Lämmer zur Schlachtbank führen, es gab kein Feld der Ehre, auf dem sie heldenmütig hätten fallen können. Bedeutete all dies aber nicht, daß wir uns letztlich der ermordeten Brüder und Schwestern zu schämen hatten? [...] Völlig unbegreiflich schien nur das Ausmaß der Passivität, mit der sich die mittel- und osteuropäischen Juden ihren Unterdrückern und Mördern ergaben.

Dem Gefühl der Demütigung, das wir empfanden, lag eine mittlerweile längst verschwundene Unwissenheit zugrunde, eine beschränkte und wohl auch überhebliche Form der Ahnungslosigkeit. Außer dem Eindruck tiefer Erniedrigung bewirkte sie Ohnmacht und Wut. Doch um Rachebedürfnisse zu befriedigen, lag für uns Deutschland, das dies alles verursacht hatte, zu weit, außerdem wurde es nach dem Krieg von den Siegermächten beschützt. Im übrigen gab es andere, nicht weniger wichtige Probleme: Vor uns lagen der Kampf um die Erlangung der Unabhängigkeit und die Abwehr der Invasoren aus den Nachbarstaaten." (S.20-22)

Primor sah als Kind von 11/12 Jahren in der Wochenschau Bilder der "im Mai 1945 angeordneten Zwangsbesichtigung des Konzentrationslagers Buchenwald durch Angehörige der deutschen Bevölkerung von Weimar und Umgebung. Unvergeßlich der Anblick ordentlich gekleideter, disziplinierter Männer, Frauen und junger Leute, die, von G.I.s flankiert, in Reihen durch das Lager zogen. Und ebenso unvergeßlich der Horror der Leichenberge und der ausgemergelten Gesichter und Körper der Überlebenden, allesamt Elendsgestalten, von den Toten kaum zu unterscheiden. Schließlich dann die hilflosen, fast immer gleichlautenden Beteuerungen der Deutschen: Davon haben wir nichts gewußt, das alles war uns unbekannt. Eine amerikanische Journalistin, die die Aufnahmen kommentierte, faßte ihre Eindrücke in dem Satz zusammen, die Worte »Ich wußte nichts« hätten offenbar zur deutschen Nationalhymne gehört.

Nicht nur mit Schuld, auch mit Sühne und Bußopfer läßt sich auf vielerlei Weise umgehen. Bei einem Besuch Berlins, ich war schon Botschafter in Bonn, fiel mir an dem im Krieg durch Bomben beschädigten und weitgehend in diesem Zustand belassenen alten Turm der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche eine Gedenktafel auf. Ich mußte die Inschrift mehrmals lesen, sie erschien mir zumindest zweideutig: Die Turmruine solle, hieß es, »an das Gericht Gottes erinnern, das in den Jahren des Krieges über unser Volk hereingebrochen ist«. Ist der Satz wie eine biblische Textstelle zu verstehen, die etwa ein Jahr der Dürre im Land mit der Versündigung des Volks rechtfertigte? Wo liegt die Klammer, die eine solche Inschrift mit den an grausamer Realität durch nichts zu überbietenden Verbrechen Nazi-Deutschlands verbindet? Und schließlich: Über welches Volk war das Gottesgericht hereingebrochen? Nur über das deutsche? Wenn ja, dann fehlt die Begründung." (S.24)

"Es war 1994, bald nach unserer Ankunft in Deutschland. Das Gespräch zwischen meiner Frau und ihrem Tischherrn, einem höheren Beamten, bestand im wesentlichen aus dessen Monolog, in dem er die eigene Leidensgeschichte und die seiner Familie unter den Bombenangriffen der Alliierten in den letzten Kriegsjahren schilderte. Die Geduld meiner Frau war bewundernswert, gelangte schließlich aber an einen Punkt, an dem es ihr geboten schien, den Redefluß des Herrn mit einer kurzen Bemerkung zu unterbrechen. Genau die Zeit, von der er spreche, gab sie ihrem Nachbarn zu verstehen, habe ihre Mutter in Auschwitz verbracht. Er wandte sich darauf der Dame an seiner anderen Seite zu." (S.25)

Zum weiteren Text des Buches

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