"[...] Die Zeit in Israel war nie gleichzeitig. 75 Jahre nach der Staatsgründung, also dem Beginn der Ausübung jüdischer politischer Souveränität in Israel, ist diese Staatsgründung noch immer nicht vollzogen. Denn dem Staat fehlen entscheidende Merkmale, andere sind uneindeutig: So gibt es etwa noch keine endgültigen Grenzen. Das Land kämpft noch immer um seine Unabhängigkeit, und es ist Besatzungsmacht. Israel ist formal demokratisch und doch keine liberale Demokratie. Seine Hauptstadt Jerusalem ist de facto geteilt und ständig wird ob der Heiligkeit dieser Stadt gekämpft. Seine Lage zwischen den Kontinenten ist nicht nur geografisch bedingt. Israel liegt auch politisch und kulturell sowohl inner- wie außerhalb Europas, Asiens und Afrikas. Als jüdischer Staat wurde Israel auf dem Grundsatz gegründet, dass Staat, Nation und Religion untrennbar miteinander verbunden sind. Israel ist vieles zugleich: eine postindustrielle Hightech-Dienstleistungsgesellschaft, eine orthodoxe Lern- und Lehrgemeinschaft, zutiefst religiös und abgrundtief säkular, weltoffen und weltverschlossen, homoerotisch und homophob, liberal und autoritär, zivilgesellschaftlich und militaristisch, tanzend und marschierend, gleich und ungleich, anerkennend und diskriminierend, mitleidig und grausam – all das ist israelischer Alltag. Und jenseits der „Grünen Linie“, in den seit 1967 besetzten Gebieten oder in „Judäa und Samaria“, wie Nationalreligiöse das Westjordanland nennen, herrschen andere Gesetze als im Kernland.
DEMOKRATIE, DIVERSITÄT, DIFFERENZEN
Ende Dezember 2022 wurde die 37. Regierung im israelischen Parlament, der Knesset, vereidigt. Es ist eine Koalition aus vier Parteien, der rechtspopulistischen Likud Partei, den beiden orthodoxen Parteien Schas und Vereinigtes Thora-Judentum und dem Parteienbündnis Religiöser Zionismus, das rechtsradikal, messianisch, homophob und rassistisch ausgerichtet ist. Gemeinsam haben sie 64 der 120 Sitze im Parlament, also eine Mehrheit von 53 Prozent. Sie sind eine demokratisch gewählte Mehrheit und haben die Wahlen gewonnen, daran besteht kein Zweifel. Für die Verlierer der Wahl geht aber nicht nur ihre Welt unter, sie fühlen sich verraten. Für diese 47 Prozent ging mit der Wahl auch ihr Bild verloren, das sie von Israel hatten, ein Selbstbild, das sie von sich selbst als Israelis hatten: liberale weltoffene Menschen, die am östlichen Ufer des Mittelmeers eigentlich zu Europa gehören. Nichts symbolisiert dieses Milieu mehr als die Geschichte der Stadt Tel Aviv, deren Wahlergebnis konträr zu dem gesamtisraelischen war. Dabei symbolisiert die Geschichte einer zweiten Stadt, Jerusalem, genau das Gegenteil. Sicher gab es seit 1977, als die Dominanz der linksgerichteten Parteien beendet schien, rechte Regierungen, aber hier und jetzt liegt eine neue noch nicht bekannte Radikalität in der Luft. Diese wird von den Wahlgewinnern tagtäglich bestätigt. Sie machen den Verlierern ihre Niederlage klar und bekräftigen, dass sie keinen Regierungs-, sondern einen Regimewechsel planen und auch ausführen werden. Die Gewinner machen keinen Hehl aus ihrer Absicht. Sie wollen die Gewaltenteilung abschaffen, die Medien unter ihre Kontrolle bringen, Kultur und Wissenschaft ihren Ansichten unterwerfen, und auch die seit 1967 besetzten Gebiete annektieren. Sie planen eine Mischung aus Populismus und Gottesstaat. All das wird mit dem Gewinn der Wahlen legitimiert. Die Mehrheit hat recht.[...]"
Weiter in: Natan Sznaider: Willkommen im Nahen Osten APuZ 28.4.2023
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