Mittwoch, 29. März 2023

Ist Erinnerung ein Konstrukt?

 https://www.zeit.de/2023/14/erinnerung-trauma-forschung-gedaechtnis/komplettansicht

"[...] Elizabeth Loftus ist 78 Jahre alt und eine Koryphäe ihres Faches, eine weltweit führende Gedächtnisforscherin. An diesem Tag unterrichtet sie drei Stunden lang, ohne Pause. Es geht darum, dass sich Augenzeugen oft falsch an ein Verbrechen erinnern. Sie erzählt von dem Serienmörder Ted Bundy, den sie mal traf, und dem Schauspieler Kevin Spacey, mit dem sie neulich gezoomt hat, weil er der sexuellen Nötigung beschuldigt wird. Die Studierenden hängen an ihren Lippen. Ein paar Räume weiter hat Loftus ihr Büro. Neben der Tür hat sie eine Postkarte aufgehängt. Darauf steht: "Artige Frauen schreiben selten Geschichte."

Anfang der 1970er, nach ihrer Doktorarbeit in Psychologie, habe sie beschlossen, dass ihre Forschung bedeutsam sein soll, erzählt sie am Morgen nach dem Seminar in ihrem Haus auf dem Campus. Loftus wurde später mit Kritik aller Art überzogen, sie wurde in Fachartikeln angegriffen und in E-Mails mit dem Tod bedroht, sie wurde ausgebuht, beleidigt, verklagt und von Veranstaltungen ausgeladen, einmal schlug ihr im Flugzeug eine Sitznachbarin eine zusammengerollte Zeitung auf den Kopf, nachdem Loftus sich vorgestellt hatte – aber sie kann sich nicht erinnern, dass irgendjemand ihre Arbeit als irrelevant bezeichnet habe.#

 Damals als junge Forscherin trieb sie Geld vom Verkehrsministerium auf und überlegte sich ein Experiment. Sie zeigte Menschen ein Video eines Auffahrunfalls und fragte anschließend eine Gruppe: "Wie schnell war das Auto, als es das andere berührte?" Eine andere Gruppe fragte sie: "Wie schnell war das Auto, als es in das andere Auto einschlug?" Die zweite Gruppe nannte im Durchschnitt eine um knapp 15 Kilometer pro Stunde höhere Geschwindigkeit.
 Als sich die Menschen eine Woche später noch mal an den Unfall erinnern sollten, gaben jene, die nach dem einschlagenden Auto gefragt worden waren, häufiger an, im Unfallvideo zerbrochenes Glas gesehen zu haben. In Wahrheit hatte es kein zerbrochenes Glas gegeben.
 Alle hatten dasselbe Video gesehen. Dennoch erinnerten sich die einen an ein schnelles Auto und eine zerbrochene Scheibe. Und die anderen an ein langsames Auto und eine intakte Scheibe. Der einzige Unterschied zwischen den beiden Gruppen war das Verb, das Loftus in ihrer Frage benutzt hatte. Sie probierte noch andere Verben aus: "kollidieren", "aufprallen", "anstoßen". Die Antworten unterschieden sich verlässlich um einige Kilometer pro Stunde. Es war, als würde Loftus an einem Regler drehen und damit die Erinnerung der Menschen steuern.
 Die vorherrschende Meinung war zu jener Zeit: Das menschliche Gedächtnis arbeitet wie eine Art Videorekorder, unbestechlich zeichnet es die Wirklichkeit auf und speichert sie als Erinnerung im Gehirn ab. Auch wenn man später nicht mehr auf alles Zugriff hat – jene Dinge, an die man sich erinnert, sind ein akkurates Abbild vergangener Erlebnisse. Wie ließen sich da Loftus’ Befunde erklären?
 Ihre Studie sorgte für Aufsehen. Es begann eine Phase intensiven Forschens. Bald war klar: Das menschliche Gedächtnis ist in dem, was es abspeichert, hochgradig wählerisch. Von den Tausenden Eindrücken und Informationen, die jede Sekunde unser Hirn erreichen, nehmen wir nur einen winzigen Teil bewusst wahr. Und davon verschwindet das allermeiste bald wieder. Nur ein Bruchteil bleibt hängen, nämlich alles, worauf wir aktiv unsere Aufmerksamkeit richten. Auch davon wiederum wird nur ein kleiner Teil langfristig als Erinnerung abgespeichert. Nämlich alles, was für uns neu, überraschend, von großer Bedeutung oder mit starken Gefühlen verbunden ist. Was wir am Donnerstag zu Abend gegessen haben oder welche Nummer unser Hotelzimmer im Urlaub hatte, gehört in der Regel nicht dazu.
 Das Vergessen schützt unser Gehirn vor Überlastung, indem es irrelevante Inhalte löscht – so wie man am Computer besser ab und zu offene Browserfenster aus der vergangenen Woche schließt. Was bleibt, sind die Dinge, die wichtig sind: der erste Kuss; das Tor, mit dem wir unsere Mannschaft zur Meisterschaft schossen; die Geburt des Kindes; der Streit, der zur Trennung führte; wo wir waren, als die Flugzeuge ins World Trade Center einschlugen. Daran erinnern wir uns meist für immer – und zwar sehr genau. Oder?

 Am 28. Januar 1986 explodierte die Raumfähre Challenger kurz nach dem Start. Menschen auf der ganzen Welt sahen die Bilder in den Nachrichten und waren schockiert. Der amerikanische Psychologe Ulric Neisser und seine Kollegin Nicole Harsch überlegten sich in aller Eile ein Experiment. Sie stellten ihren Studierenden am Tag nach der Explosion fünf Fragen zum Moment, in dem sie von der Tragödie erfuhren: Wie haben Sie davon erfahren? Wo waren Sie? Was haben Sie gemacht? Wer war bei Ihnen? Wie haben Sie sich gefühlt? [...]

Zweieinhalb Jahre später bekamen dieselben Studierenden dieselben Fragen noch einmal gestellt. Ein Viertel beantwortete keine einzige Frage wie beim ersten Mal. Bei der Hälfte deckten sich nur die Antworten auf eine Frage. Und als die Forscher wissen wollten, ob die Probanden diese Fragen schon einmal beantwortet hätten, sagten 75 Prozent Nein. Selbst nachdem sie ihre ursprünglichen Antworten in der eigenen Handschrift gesehen hatten, schworen sie, dass das nicht sein könne. Die Erinnerungen waren noch da, aber sie hatten sich verändert. Die Probanden hatten in der Zwischenzeit neue Berichte über die Explosion gesehen und gelesen, sie hatten Gespräche darüber geführt oder angehört oder einfach nur darüber nachgedacht. Sie hatten die ursprüngliche Erinnerung mit anderen Eindrücken überschrieben, ohne dass sie es gemerkt hatten. Der alte Stand war weg. 
In der Forschung setzte sich mehr und mehr das Modell des "rekonstruktiven Gedächtnisses" durch, eines Gedächtnisses also, das beim Erinnern keine exakte Wiedergabe eines Ereignisses abspielt, sondern eine nachträgliche Rekonstruktion. Und die ist oft umso verfälschter, je länger das Ereignis her ist. Vorangetrieben wurde diese Revolution in der Psychologie von Elizabeth Loftus, die inzwischen einen Lehrstuhl an der University of Washington in Seattle übernommen hatte. [...]" (ZEIT 29.3.2023)

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