Mara Heinze-Hoferichter: Friedel Starmatz, 1928
"Ein
sonniger Morgen im Hochsommer schüttete Gold und Glanz über
tauerquickte Wiesen. Die Blumen hoben ihr Antlitz in stiller Wonne
zum Himmel auf. Ein leichter Wind rauschte vom Waldrand her über die
Landstraße, die im Morgenfrieden kühl und schattig dort lag und –
wie immer – ein wenig neugierig war auf alles, was der neue Tag an
Begebenheiten auf ihr da hinführen würde.
Was
passiert? Es kommt ein großes Knallen und Knattern und Wagen
gerassel, viel Lärm viele Menschen mit Taschen und Koffern und
Kisten und Kasten, Kinder weinten Hunde heulten
Ja,
selbst die neugierige Landstraße hätte am liebsten gerufen: Halt
ein, halt ein mit so traurigen Begebenheiten!" Aber auch sie war
wie gelähmt vor Entsetzen. [...]
Lange
Zeit wagte nichts sich zu rühren.
Endlich
hielt Junker Säuselwind es nicht mehr aus. Erst flog er einmal über
die Straße dahin und blies fort, was den eilenden Menschen in ihrer
Hast entfallen war. [...]
Über
alledem ereignete sich schon wieder ein Merkwürdiges auf der weißen
Landstraße: Etwas Lichtblaues kam daher gesegelt. Wie ein großer
Falter sah es aus. Aber nein: es hatte keine Flügel. Auf zwei festen
Beinchen und in roten Schuhen stapfte es selig und versonnen des Wegs
und war – ein Menschenbüblein!
"Na,"
sagte die gute Landstraße, "wo kommst du denn so allein her?
Hast du dich verlaufen oder willst du auch verreisen wie die vielen
Menschen [...] [...]
"Verreisen?
Nein," sagte verträumt das Büblein, "ich bin schon
ziemlich müde. Ich will bloß meiner Mutter entgegengehen."
"Wo
ist denn deine Mutter?" fragte besorgt die Landstraße.
"Mutter
ist bei Vater im Kriege. Sie besucht ihn, weil er verwundet ist,
weißt du," berichtete es ernsthaft
"O
du lieber Himmel, mein kleines Menschenkind, wo ist denn aber 'im
Kriege'?"
"Hier
herunter ist Mutter fortgegangen, und ich will ihr entgegengehen.
Glaubst du, das es noch weit ist?"
Der
kleine Junge wird von Soldaten entdeckt, die ihn mitten in den
Truppenbewegungen für sehr gefährdet halten. Sie nehmen ihn mit.
Es kommt zu einem Unfall er wird unter dem umgestürzten Wagen
hervorgezogen undliegt lange krank in einem Bett und wird dort
versorgt. Er bekommt aber mit ,dass er dort als zusätzlicher Esser
nicht gern gesehen wird, und läuft weiter.
"Die
Sonne sammelte ihre Strahlenkinder; denn es wollte Abend werden. Fast
alle waren schon gehorsam heimgekehrt, nur im Tannenwalde schienen
sie gar nicht fertig zu werden mit Spielen und Leuchten. Mutter Sonne
musste da wohl selbst einmal selbst zum Rechten sehen. Ei! Was
erblickte sie da Lustiges! Ihre Strahlenkinder spielten Haschen mit
einem Menschenknirpslein, dassjauchzend nach ihnen griff. Über
seine roten Schuhe tanzten sie, locken es hierhin und dorthin und
fanden kein Ende mit Blitzen und Blinken. Eine Weile sah Frau Sonne
lächelnd zu. Dann aber winkte sie ihren wilden Kindern gebieterisch.
Der Mond wartete voller Ungeduld; denn nun wollte doch er sein Licht
leuchten lassen.
"Husch-husch,"
sagten die Strahlenkinder im Davoneilen, "geh nach Hause, du
Knirps! Wenn wir fort sind, ist es nicht mehr schön im Walde."
Aber
Träumerlein konnte das nicht verstehen. Er sah nur auf einmal, dass
seine lustigen Gespielen fort waren, und da fiel es ihm schwer aufs
Herz, dass er Mutter noch immer nicht gefunden hatte.
Die
Vögel schlafen schon, als der Mond den kleinen Jungen im Wald
schlafend vorfindet.
"Muss
noch mal nachschauen, wohin er gehört, der Ausreißer."
Und
da leuchtete auf einmal ein so wunderbarer Glanz über den Wald hin,
dass Gisi, das Eichkätzchen geblendet die Augen schloss. Vater Mond
aber rief überrascht: "Sieh, sieh, dich sollte ich doch wohl
kennen? Bist doch das Träumerlein aus dem Erlengrund! Habe dich ja
manchmal spät abends bei Mutter hocken sehen, wenn sie so schön
gesungen hat, dass alle Engel zuhören wollten. [...]
Der
Mond bespricht sich mit dem Eichkätzchen wie man dem Kind helfen
kann. Es lockt das Kind zu einem Haus, wo eine Familie wohnt, die
bestimmt gut für das Kind sorgen wird.
Daneben
ragte eine besonders schöne Eiche empor. Die streichelte mit ihren
Zweigen die blinkeblanken Fenster. Jetzt huschte etwas Rötliches den
Stamm hinauf. War es möglich? Sein lustiger Spielgeselle, die Gisi,
guckte triumphierend auf ihn herab. Hatte sie gar keine Furcht vor
den Menschen in diesem Hause? Aber es war so still, nichts regte
sich… Vielleicht war niemand darin?…
Doch!
Jetzt ging eine Tür, und Kinderstimmen wurden laut. Eins, zwei, drei
Kinder kamen gesprungen. Das größte, ein Junge der so alt sein
konnte als er selbst, schwang eine bunte Decke in der Hand und legte
sie auf den großen braunen Tisch. Ein zartes Mädelchen mit
seidenweichen Blondhaar, ein bisschen kleiner als der Junge, trug
behutsam einen apfelgrünen Krug, der mit zartfarbigen Rosen gefüllt
war. Sorglich setzte sie ihn mitten auf die Decke. War sie eins der
Elfenkinder, die Träumerlein in dieser Nacht im Traum gesehen hatte?
Um ihre Stirn wandt sich ein Kränzlein von Kresseblüten. Das weiße
Kleid war duftig und sauber wie frisch gefallener Schnee. – Nun kam
noch ein kleiner Junge, einen dicken Kuchenbrocken in der Hand,
eilfertig daher.
"Pfui,
Wittich," rief verweisend und ein wenig verächtlich das
Schwesterlein, "du hast genascht!"
"Hat
Mutter mir geschenkt," verteidigte sich der kleine Dicke und
sprang auf eine zarte Frauengestalt zu, die jetzt mit einem großen
Teebrett in der Hand in der Türe erschien. [...]
Träumerlein
wagt sich zunächst nicht zu der Familie, wird aber entdeckt und
eingeladen. Er bekommt vom Kuchen zu essen.
Und
als das eine Stück ganz verschwunden war, lag schon ein neues auf
dem Teller. Träumerlein verzehrte es selig, und niemand störte ihn
mit Fragen. Als aber als er fertig war, sagte das Mädchen: "Mutter,
er ist so schmutzig!"
"Lass
das!" wehrte die Mutter, und zu dem kleinen Fremdling gewendet,
sprach sie eindringlich: "Sage mir nun einmal genau: Wie heißt
du?"
"Ich
habe viele Namen," antwortete er freundlich. "Träumerlein
und Märchenhans und Nestspatz, - so sagt meine Mutter, und besonders
Träumerlein… Vater sagt: Friedel Starmatz… Und Maruschka sagt:
Bubi."
"Hast
du nicht schon einmal einen Brief bekommen, und wie stand denn
darauf?"
Er
grübelt er eine Weile, dann rief er strahlend: "Natürlich! Von
Väterchen, gleich als er in den Krieg gezogen war, und Mutter sagte,
es stehe deutlich darauf: An Friedel Starmatz."
Es
stellt sich heraus, dass er den Kosename bekommen hat, weil er an dem
Tag geboren wurde, als die Staren aus dem Süden zurückkehrten. Nach
längerem Fragen erfährt die Mutter, dass er einmal in Königsberg
war.
[...]
Liebkosend strich sie über den blonden Schopf: "Ich heiße
Ingrid. Willst du mich Tante Ingrid nennen?"
Er
sah sie bedrückt und zweifelnd an, wie sie vor ihm stand in ihrem
zartgelben Kleide, das am Hals von einem weißen Seidenband gehalten
wurde. Der Hals stieg fein und zart empor und trug einen schmalen
schöngewölbten Kopf. Aus dem Antlitz schauten große Augen von
klarem, sammettiefem Grau. Das dunkelblonde Haar war tief über die
Ohren gescheitelt und im Nacken zu einem Knoten geschlungen… "Du
bist nicht Tante Ingrid," stieß Träumerlein endlich hervor.
"Du bist die Iris! Iris will ich dich nennen."
Nun
traf sich's, dass dies der Mutter Lieblingsblume war, und alle Kinder
riefen im Chor: "Iris! Ja, wie Iris sieht Mutter aus. O, dürfen
wir alle dich so nennen?" [...]" (S.7-37)
Der Weihnachtsbaum der Künstlerfamilie Grönwold ist mit weißen Lilien geschmückt.
(S.108) Wie im Hause der Buddenbrooks.
Der
letzte Tag des Jahres! In dunklen Wolkenschleiern birgt er sein Licht
und huscht flüchtigen Fußes, abschiednehmend, über die Erde. Tief,
ganz tief neigt der graue Himmel sich hernieder, weiße Wolkenarme
ausstreckend, dem letzten Tag entgegen, um ihm heimzugeleiten zur
Ewigkeit. Die mächtigen Tannen scheinen den Himmel zu stützen. So
tief lastet er auf Ihnen, dass ihre Spitzen nur undeutlich aus
wogendem Grau hervorschimmern. Still ist die Luft. Von Zweigen und
Ästlein im weißen Schneepelz tönt es in geheimnisvollem Gleichmaß:
Tropf – tropf – tropf, – der einzige Laut im Walde, der die
tiefe Stille dadurch noch deutlicher werden lässt. Weint der Wald?
Der letzte Tag des Jahres fühlt es, dass die Menschen mit seinem
Licht nichts anzufangen wissen. Es gilt Ihnen nichts. Am hellen Tage
träumen Sie schon vom Abend und dem Anbruch des neuen Jahres. Sie
freuen sich der Stunden, die vergehen; darum aeilt er vorüber, –
wesen os, schattenhaft. Nur im Walde und auf stillen Feldern hält er
eine wehmütige Feier und grüßt segnenden Blickes die leise atmende
Welt. –
Die
schwarze Gestalt, die langsam den Waldweg daherkommt, hebt den Kopf
und schaut wie in Andacht um sich. (S.119)