Mittwoch, 5. Mai 2021

Moralische Verletzung in der Pflege

"Eine Impfpflicht für Pflegepersonal? So etwas kann nur fordern, wer keinen Schimmer davon hat, wie tief die moralischen Verletzungen sind, unter denen diese Berufsgruppe schon seit Langem leidet.

Wenn er höre, so Bayerns Ministerpräsident Markus Söder Anfang dieser Woche, "dass sehr wenige Pflegekräfte sich impfen lassen", dann müsse man über eine Impfpflicht für diesen Berufsstand nachdenken. Das ist eine bemerkenswerte Ansage, und zwar nicht nur, weil die Datenlage über die Impfverweigerer im Pflegewesen unklar ist. Bemerkenswert ist sie vor allem, weil sie erneut zeigt, wie wenig darüber nachgedacht wird, warum es diese Zögerlichkeit unter Pflegenden gibt. Aus meiner Sicht und nach dem Austausch mit vielen beruflich Pflegenden hat dies weniger medizinische als vielmehr politisch-moralische Gründe.

 Schon seit Jahren herrscht ein Missverhältnis zwischen den Risiken und Zumutungen, die dieses Land beruflich Pflegenden aufbürdet, und der Anerkennung, die sie dafür zurückbekommen. Aus einem solchen Missverhältnis kann eine gefährliche Entfremdung wachsen. Niemand sollte sich wundern, wenn dieser Wertschätzungsmangel unter anderem umschlägt in den Gedanken: "Nein, impfen lasse ich mich für euch nicht auch noch!"

 Völlig selbstverständlich scheinen Bevölkerung und Politik davon auszugehen, dass es die Pflicht der Pflegenden sei, sich als Erste gegen Corona impfen zu lassen. Menschen, die sich nicht impfen lassen wollten, hätten am Pflegebett nichts zu suchen, heißt es in einem Kommentar des Spiegels: "Für sie gilt dasselbe wie für eine Soldatin, die nicht kämpfen möchte: Beruf verfehlt." Die Kriegsmetapher ist in der Tat treffend – allerdings auf eine ganz andere Art, als der Autor dieses Satzes denkt. [...]"

Von Monja Schünemann,  Die ZEIT 13.1.21

Franziska Böhler: Krankenschwester über Intensivzeit: „Schaue, dass am Ende des Tages alle noch leben“,  Focus 6.12.2020

 13 Jahre lang arbeitete Franziska Böhler als Intensiv-Krankenschwester. Mit Leidenschaft und am Limit. Sie wechselte wegen ihrer Familie. Wegen Corona-Überlastung werden viele Kollegen gehen, ist sie sich sicher. Dann haben wir nächstes Jahr ein gravierendes Problem. [...]

 Ich bin mit einem blutenden Herz gegangen. Denn ich war von Herzen gern Intensivkrankenschwester.

Doch mein kleiner Sohn fragte eines Tages: Mama, warum bist du eigentlich immer weg? Als er zu mir sagte, er möchte am Wochenende nicht immer nur mit der Oma oder dem Papa allein sein, habe ich entschieden, dass sich etwas ändern muss. Denn mein Mann ist Arzt, hatte viele Wochenendschichten. Ich als Intensivkrankenschwester ebenso. Also hatten wir kaum Zeit als Familie mit den beiden Kindern. Das wollte ich so nicht mehr. [...]"


https://www.springermedizin.de/komplexitaet-komplizitaet-und-moralischer-stress-in-der-pflege/17319116

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