Im selben Jahr 2001 aber fielen die Türme in New York. Das Ende des Kalten Krieges brachte Konfliktlinien zum Tauen, die jahrzehntelang festgefroren gewesen waren und die nun ein Neudenken in Kategorien erzwangen, für die wir kein rechtes Verständnis mehr hatten. Die neue "planetarische Politik", die Panajotis Kondylis ein Jahrzehnt zuvor prognostiziert hatte, wurde sichtbar.
In den zwei Jahrzehnten, in denen sich seither nicht nur der weltweite Konsum und die damit einhergehende Ausbeutung und Vernichtung der Ökosysteme intensiviert haben, neue Kriege Hunderttausende Tote, Flüchtlinge und zerstörte Regionen hervorbrachten, der Aufstieg Chinas sich fortsetzte und sich die Populisten auch im Westen ausbreiten, hat sich Wikipedia parallel zu einem Global Player der Aufklärung entwickelt, der aus dem Beschreiben und Analysieren dieser globalen Gegenwart nicht mehr wegzudenken ist - denn Wikipedia ist ja eben nicht die eine, sondern auch wieder ein Schwarm. Wer würde die Entwicklungen auf dem Planeten auch nur annähernd erfassen können - wenn eben nicht die dreihundert gleichzeitig und autonom wirkenden Wikipedien, die es weltweit gibt? Sie sind nur selten bloße Übersetzungen der englischen Version, vielmehr entwickelt jedes sprachliche (nicht nationale!) chapter seine Texte eigenständig. Manchmal schaue ich mir nur denselben Begriff in den verschiedenen Sprachen an, die ich lesen kann, und die so erkennbaren Unterschiede alleine sind schon eine Lektion in Geopolitik und Bedeutungsdrift. Da man jeden Artikel in jeder Sprache in seiner inhaltlichen Chronologie zurückverfolgen kann, lässt sich also durch ein paar Klicks nachsehen, wie man 2009 weltweit über den Klimawandel oder den Reality-TV-Star Donald Trump dachte. Eine zukünftige Mentalitäts- und Kulturgeschichte der Menschheit wird hier vorsortiert. Wikipedia ist höchst gegenwärtig und gleichzeitig ein perfektes Archiv. [...]
Aber auch die Wikipedianer selber machen es sich nicht leicht und streiten - offen einsehbar - über Formulierungen, Definitionen und Einschätzungen, sodass es manchmal zu Zeit und Nerven angreifenden edit wars kommt, bis Ritter des Wikiversums einschreiten und den strittigen Artikel mit ihrer Administratorenmacht einfrieren müssen. Aber das sind Lappalien angesichts der Ausmaße dieses Wissenskosmos und der Geschwindigkeit, mit der er weiter wächst: die deutschsprachige Wikipedia alleine etwa um dreihundert Artikel pro Tag. [...]"
Hier die Reaktion in der Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Kurier#Mal_eine_ganz_andere_Sicht_auf_Wikipedia
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