Montag, 22. März 2021

Wikipedia - aus der Sicht der ZEIT und eines Wikipedianers im Wikipedia: Kurier sowie die Diskussion dazu

Wikipedia in Deutschland:Eine für alle, alle für eine Von Jens Tönnesmann Die ZEIT 17.3.21

Seit 20 Jahren gibt es die deutschsprachige Wikipedia. Die Online-Enzyklopädie wird von einem streitlustigen sozialen Netzwerk gemacht, aber es mangelt an weiblichen und jüngeren Aktiven. Bekommt die Gemeinschaft das jetzt in den Griff? [...]
In dem Bilder-Workshop bleibt es freundlich, auch wenn Sven Volkens einen Punkt anders sieht als die zugeschalteten Frauen: Explizite Bilder seien nicht per se ein Problem; wenn sie nicht sexistisch oder pornografisch seien, könnten sie auch eine "enzyklopädische Arbeit" leisten, findet er.
"Konflikte sind in Wikipedia unvermeidlich"
 Aber Streit auf Wikipedia kann schnell eskalieren. Etwa, wenn jemand Verschwörungstheorien platzieren will; dagegen zeigt sich Wikipedia in diesen Zeiten ziemlich robust. Erschwert ein Mund-Nasen-Schutz die Infektion mit dem Coronavirus? Das sei nicht erwiesen, fand kürzlich ein Nutzer und änderte den Eintrag im Lexikon ab. Woraufhin eine Reihe anderer Nutzer ihn korrigierten. Mehrmals ging es hin und her. Dann verfassten sie eine "Vandalismusmeldung" – eine Beschwerde.
 Eine solche "VM" ruft einen von 189 Administratoren auf den Plan, der den Konflikt befriedet. Dabei begutachtet er auch, ob Einträge mit verlässlichen, idealerweise wissenschaftlichen Quellen belegt sind. In diesem Fall wurde der Nutzer für eine Woche gesperrt, auf dass er sein Verhalten überdenke. Und zwar von He3nry, der wie viele andere Nutzer wenig über sich preisgibt: Er sei Physiker, Managementberater aus dem Rheinland und habe zwei Kinder.
He3nry: Der Aufpasser
 "Konflikte sind in Wikipedia unvermeidlich. Es braucht Menschen, die sie klären und dazu auch Beiträge löschen oder Nutzer sperren, wenn es nötig ist. Man muss entscheiden wollen, und ich glaube, dass ich das kann. Ich versuche Argumente abzuwägen, distanziert zu bleiben und nicht zu triumphieren. Und ich halte es gut aus, wenn andere Nutzer sich über mich beschweren. Das passiert ständig. Aber das Gute an Wikipedia ist: Wenn eine Entscheidung nicht konsensfähig ist, werden die anderen Administratoren sie korrigieren. Wenn es mir zu viel würde, habe ich wie alle anderen ein 'right to leave' – das Recht, zu gehen."
He3nry hat sich auch darauf spezialisiert, "Löschdiskussionen" abzuarbeiten. In ihnen geht es darum, welche Artikel weichen müssen, weil sie die "Relevanzkriterien" nicht erfüllen, die in einer Liste mit mehr als 100 Unterpunkten detailliert festgehalten sind. He3nry ist jemand, der die Regeln eher eng auslegt, er sagt: "Wissensgenerierung hat auch mit Wegschmeißen zu tun."# Wegschmeißen trägt aber womöglich zu einem anderen Problem bei: Junge Wikipedianer sind rar. Johann Lensing, 20, ist als Vertreter der "Generation Z" also eine Ausnahme. Seit 2014 ist er dabei.
Johann Lensing alias Rogi.Official: Der Z-ler
"Am Anfang fühlst du dich in Wikipedia wie in einem Haifischbecken; wenn ein Artikel ohne freundliche Erklärung gelöscht wird, ist das ziemlich niederschmetternd. Jüngere Leute schreckt das ab; in anderen sozialen Netzwerken können sie ja veröffentlichen, was sie wollen. Dabei gibt es in Wikipedia viel zu gewinnen, in der Gruppe der Jungwikipedianer habe ich zum Beispiel gute Freunde gefunden." [...]
Die Menschen von Wikipedia mögen nicht die Gesellschaft repräsentieren. Und doch sind sie zu vielseitig, um sie in einem Text abschließend vorzustellen. Vor allem aber sind sie am Ende immer zu wenige, egal wie viele sie noch werden. [...]

Eine für alle, alle für eine – eine Rezension (Wikipedia: Kurier) 21.3.21

Vorweg: Eigentlich hätte der Artikel von Zeit-Autor Jens Tönnesmann einer der besten sein können, der bisher in einer deutschen Zeitung über die deutschsprachige Wikipedia geschrieben wurde, auch weil bei der Recherche ganz unterschiedliche Benutzer befragt wurden, nur ging es dann doch wieder darum, identitätspolitische Genderscheiße unterzubringen.

Um beispielsweise das Thema Editwar zu erläutern, für das es mit dem Streit um Formulierungen in Kirchenartikeln eigentlich genügend aktuelle und vor allem eindeutigere Beispiele gibt, mußte der Artikel Strumpfhose herhalten, um gleichzeitig der Wikipedia Sexismus unterzujubeln. Jetzt kann man sicher streiten, welches der darin zwischenzeitlich verwendeten Bilder am geeignetsten ist, um den Artikel Strumpfhose zu bebildern, genauer: Den Sachverhalt „Strumpfhose“ zu verdeutlichen, aber die elementare Tatsache, daß seit der Erfindung von Strumpfhosen auch die sexuelle Erregung ein Zweck von Strumpfhosen waren, und das nicht erst seit Nutzung langbeiniger Photomodelle in Annoncen von Kunert oder auf Billboards von Palmers. Dieser nicht unwesentliche Zweck ist nun reduziert auf die sexuelle Anziehung, die für manche Fetischisten von Schaufensterpuppen ausgeht. Das nennt Jens Tönnesmann „enzyklopädisch nüchtern“, für mich ist es eine milde Form von Volksverdummung. So richtig brauchbar war allerdings auch keines der anderen Bilder, die zeitweise im Artikel waren.

Dennoch bekommt der Artikel – zunächst – die Kurve. Er geht darauf ein, daß das 2001 gegründete Projekt durch die Mitarbeit Tausender die kommerzielle Konkurrenz verdrängt hat. Dank dem erwähnten Podcast von Sebastian Wallroth weiß der Artikelautor um unterschiedliche Wikipedianer, Vielschreiber und Linksammler, Listenersteller und Kategorisierer. Rechtschreib- und Zeichensetzungskontrolleure und Geviertstrichbastler werden nicht erwähnt. „Am Ende macht jeder viele kleine Dinge, und alle zusammen machen etwas Großes draus“, wird Wallroth zitiert. Ein Fehler schleicht sich dennoch ein, denn Wikipedia verbreitet Wissen kostenlos, aber nicht lizenzfrei, wie es im Artikel steht.

Der Artikel geht auch auf den Fall Friedrich Curtius und den dadurch ausgelösten Shitstorm ein und erwähnt, daß man dank Versionsgeschichten noch in hundert Jahren nachlesen können sollte, wer das „PR-Gedöns“ im Artikel „bereinigt hat“. Im selben Atemzug wird „die Optik des Strumpfhosen-Artikels“ genannt und zur Frage gemacht, „ob die Wikipedia-Gemeinde Frauen systematisch diskriminiert“.

Und hier kommt Sandra Becker ins Spiel, die nach eigener Aussage 2012 angefangen hat und sich im Wikipedia:WomenEdit engagiert, wo aktuell – zweiter Artikelfehler – Artikel zu allen deutschen Richterinnen erstellt würden. Dem ist nicht so, weil diese Gesamtheit gar nicht enzyklopädisch relevant ist, sondern tatsächlich dreht es sich in dieser Runde um Mitgliederinnnen der Landesverfassungsgerichte. Becker beklagt die mangelnde Neutralität der deutschsprachigen Wikipedia und führt ausgerechnet die Benennungen der Kategorien ins Feld. Die Gründe dafür und die Probleme, die eine Änderung begleiten würde, wurden schon diskutiert, also gehe ich darüber hinweg. Aber es ist schon starker Tobak, zu behaupten, daß die Regeln „eben vor allem von Männern festgelegt“ werden. Würde man sich die Zeit für eine genaue Textanalyse nehmen, stellte man fest, daß die meisten Regelseiten einst von Benutzerin:Elian verfaßt wurden, und ein großer Prozentanteil des Textes hat noch heute ihren Wortlaut. Wikipedia:Kategorien stammt allerdings weitgehend von Benutzer:Ulrich.fuchs (das war der mit der Mutter an der rechten Radnabe des Hinterrades seines Fahrrades).

An dieser Stelle fällt mir ein, daß Frau Becker ebenso wie Herr Tönnesmann geflissentlich übersehen, daß Wikipedias Aufgabe es ist, die Welt da draußen so darzustellen wie sie ist und nicht wie sie sein sollte. Und schon gar nicht so, wie sie manche Aktivisten gerne hätten. Wikipedia dient nicht dem politischen oder kulturellen Kampf – das verbietet eigentlich schon der Neutralitätsanspruch, der von Frau Becker eingefordert wird.

Der Krieg ums Strumpfhosenbild wird vom Zeit-Autor für beendet erklärt. Benutzerin:Kaethe17 sei dadurch inspiriert worden, nach weiteren Artikeln zu suchen, in denen „Frauen eher in sexualisiertem Kontext als Männer“ abgebildet werden. Und benennt Shorts#Hot Pants. Diese wurden ja Anfang der 1970er Jahre erfunden, um dem Minirock noch eins draufzusetzen. Noch kürzer. Kein Oberbekleidungsstück ist von sich aus sexualisierter als die Hot Pants. Wir werden sehen, wie sich die Bebilderung im fraglichen Artikel entwickelt. Inzwischen befindet sich im Artikel eine Strichzeichnung, die ein Mittelding aus Hot Pants und Short Shorts zeigt.

Ein weiterer Wikipedianer, der erwähnt und zitiert wird, ist Benutzer:He3nry, für Zeit-Autor Tönnesmann „der Aufpasser“. He3nry wird als eher scharfer Hund charakterisiert, der Wissen auch mal damit generiert, etwas wegschmeißen zu wollen. Ich finde die Aussage widersprüchlich, gebe aber zu, daß es in Wikipedia gelegentlich wegzuschmeißenden Mist gibt. Dieser Mist ist aber kein Wissen und war es auch nicht. Dabei finde ich, daß dieser Gegensatz Inklusionismus–Exklusionismus dem Sachverhalt nicht gerecht wird. Klar, es mag Hardcorevertreter auf beiden Seiten geben. Es gibt zum Beispiel vieles, was ich wegschmeißen würde, aber dennoch behalten wird, etwa all die Kakerlakenfresser aus dem RTL-Universum, Dieter Bohlens Superdeppen oder Heidis nächste Kleiderstangen, aber bei Ortsartikeln und Naturkatastrophen bin ich kompromißloser Inklusionist.

Gut finde ich den Bogen geschlagen zu Benuter:Rogi.Official, einem Jungwikipedianer (und somit per Definition kein alter weißer Mann), der vor allem kritisiert, wenn Artikel ohne freundliche Erklärung gelöscht werden. Niederschmetternd sei das und abschreckend, zumal man in anderen sozialen Netzwerken veröffentlichen kann, was man will. Naja, andere soziale Netzwerke stellen allerdings nicht den Anspruch, ein Enzyklopädieprojekt zu sein.

Der Zeit-Artikel nennt hier und da Aktivitäten einzelner Benutzer, meist weißer alter Männer, etwa vom Dresdner Stammtisch, und Insider wissen gleich, um welche ungenannten Accounts es sich handelt. Erwähnt wird die Wikipedia:Redaktion Kleine Länder anhand von Beispielen wie Gambia, Grönland und Nauru. „Wir brauchen dringend mehr Autoren“, sagt der Spezialist für Osttimor, „und wir freuen uns über jeden, der mitmacht.“ Bei Nauru mußte ich spicken, wer da aktiv ist.

Würde ich den Artikel Angehörigen oder Freunden empfehlen, um ihnen zu verdeutlichen, wie Wikipedia funktioniert: Jein. Zwei Drittel des Textes sind sehr brauchbar, das restliche Drittel mit dem Gendergedöns ist für 99,5 Prozent der Benutzer – solche, die wie ich in Ruhe und Frieden ihre Artikel über Bauwerke und Orte, Seen oder Politiker, Lebewesen und Künstler schreiben wollen –beleidigend. Wir mögen teilweise alt sein, überwiegend männlich und weißer Hautfarbe, aber wir sind keine weißen alten Männer, Herr Tönnesmann. Die von Ihnen aufgeworfene Frage der systematischen Diskriminierung von Frauen beantworten Sie in Ihrem Artikel übrigens nicht. Dieses journalistische Stilmittel kennt man sonst von dem Käseblatt mit den vier großen Buchstaben. Seit wann hat Die Zeit das nötig? (Hinweis: Vorstehender Beitrag enthält Meinung) MaB 21.3.

Diskussion zu dieser Rezension in der Wikipedia

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Sind die Relevanzkriterien frauenfeindlich?

von Gestumblindi, 24.2.


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