Sonntag, 29. Dezember 2024

Island

"[...] 1975 hat es in Island einen legendären Frauenstreik gegeben, an dem sich neunzig Prozent aller Frauen, linke, rechte, junge, alte, Hausfrauen, Arbeiterinnen, Akademikerinnen beteiligten. Sie weigerten sich zu arbeiten, zu kochen, Kinder zu hüten. "Women’s Day Off" hieß der Tag. Ein Schock für die Männer und ein phänomenaler Erfolg für die Frauen. Im Jahr darauf verabschiedete das isländische Parlament ein Gesetz, das Gleichberechtigung in jedem gesellschaftlichen Bereich garantierte. Mit durchschlagender Wirkung bis heute: In den letzten fünfzehn Jahren lag Island im Global Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums ununterbrochen auf Platz eins. [...]

Nach kurzer Fahrt biegen wir rechts ab, fahren auf einen kleinen Hügel mit einer weißen spitzen Kirche darauf. Irgendwo hier oben hat, der Sage nach, Egill dem Hügel einen Besuch abgestattet. Egill Skallagrímsson, den wir schon in der Ausstellung in Reykjavík kurz kennengelernt haben. Eine der isländischen Urgestalten, halb Wikinger, halb Dichter, ein Mann, den es wirklich gegeben hat und der deshalb so bedeutsam gewesen ist für dieses Volk, weil für ihn das Erzählen von Geschichten nicht nur irgendein Vergnügen war, sondern eine Sache auf Leben und Tod. Die wichtigste Sache der Welt.

Gelebt hat dieser Egill ungefähr zwischen 910 und 990. Die Egills Saga gilt als die älteste Saga des Nordens überhaupt, und schon in ihr gibt es diese Mischung, die die isländische Erzählwelt auszeichnet – und damit natürlich auch das isländische Weihnachten. Auf der einen Seite die christlichen Motive. Auf der anderen Seite das Archaische der nordischen Geschichten.

In die lebendige Welt hineindichten

Es ist nämlich so: Egill hat damals zwar selbst sein Leben erzählt, aber wir kennen nur die Version des Dichters Snorri Sturluson, die dieser mehr als zwei Jahrhunderte später verfasst hat, ungefähr im Jahr 1230. Und Snorri Sturluson war Christ. Anders als Egill, der Held der Saga. Dessen Großvater soll ein Werwolf in Norwegen gewesen sein, der abends die Gestalt wechselte.

Egill schreibt mit drei Jahren sein erstes Gedicht, mit sechs begleitet er seinen Vater zu einem Fest und ist zum ersten Mal betrunken, bald darauf begeht er seinen ersten Mord. Viele weitere Morde, Kämpfe, Siege folgen. Doch dann sterben seine beiden Söhne, einer kurz nach dem anderen. Und Egill beschließt, selbst zu sterben. Legt sich hin, isst nicht mehr, will verhungern. [...] Der Vater hört die Tochter kauen. "Kaust du etwas?" – "Ich kaue Seetang", sagt sie, "denn ich glaube, dass es mir davon schlechter geht als vorher; sonst, glaube ich, würde ich zu lange leben."

Das gefällt Egill, er kaut auch Seetang, hofft damit schneller zu sterben, in Wahrheit bekommt er, wie von der Tochter gewollt, schrecklichen Durst. Und er trinkt und isst, und sie bittet ihn, falls das mit dem Sterben jetzt nichts werden sollte, wenigstens ein Gedicht zu schreiben, zum Gedenken an seine Söhne. Und es entsteht eines der bis heute bekanntesten Gedichte in isländischer Sprache, Der Söhne Verlust.

Denn mein Geschlecht / steht am Ende, / gleich sturmzerschlagnen / Ahornen im Wald. / Nicht heiter ist, / wer vom Hause hinab / eines toten Gesippen / Glieder trägt.

So lautet eine der Strophen darin.

Egill dichtete sich ins Leben zurück und lebte weiter, noch viele Jahre lang. Am Ende, beinahe blind geworden, kam er wohl hier herauf, auf diesen Hügel im Mosfell-Tal, wo heute die weiße spitze Kirche steht, torkelnd, zwei Knechte bei sich und zwei Truhen voller Silber, der Schatz eines räuberischen Lebens. [...] 

Egills Silber – das ist ein Synonym für Geheimnis und Schätze im Verborgenen in Island. Und immer mal wieder kommt jemand hierhin, ins Mosfell-Tal zur Mosfellskirkja, um zu graben und zu suchen.

Auf dem Kirchhof liegt auch der berühmteste isländische Dichter der Neuzeit begraben. Halldór Kiljan Laxness, von 1902 bis 1998 hat er gelebt, fast das ganze 20. Jahrhundert lang. Hier liegt er unter Moos und Steinen. Sein Grab schaut hinab auf das Tal mit dem Laxness-Hof, auf dem er aufwuchs und nach dem er sich benannte. Als Junge hatte er dort unten eine Vision: Er blickte in die Welt und sah, wie schön sie war. "Da ist ihm, als sehe er das Antlitz Gottes vor sich", schreibt Laxness später in der Geschichte Mein heiliger Stein und erzählt darin von sich selbst als Neunjährigem. 

Es ist, als wolle sich seine Seele über den Körper hinaus erheben, wie aufgeschäumte Magermilch über den Rand einer Schüssel; es war, als fließe seine Seele in das unermessliche Meer eines höheren Lebens über den Worten, jenseits aller Wahrnehmung; der Körper durchdrungen von einem brandenden Licht, über allen Lichtern.

Laxness war kein gläubiger Christ, er glaubte, viel länger als es vernünftig war, an den Kommunismus, vor allem aber glaubte er an die Natur und die Kraft und die höhere Weisheit, die in ihr verborgen liegt. [...]

Sein größter und bester Roman heißt Sein eigener Herr, und das ist wirklich eines dieser Bücher, die den Lesenden verwandeln, weil man die Welt danach mit anderen Augen, neuer Dankbarkeit sieht. Es ist die Geschichte des Bauern Bjartur, der, besessen von der Idee, vollkommen unabhängig und frei zu leben, eine eigene Schafzucht in den unwirtlichen Bergen im Nordwesten Islands beginnt. [...]

Ein echtes Glück übrigens, dass ich am 23. Dezember nicht mehr hier bin. Denn so erstaunlich und wohlschmeckend und besonders all die probierten isländischen Spezialitäten sind – am 23. ist der Tag des Schreckens. Zumindest für Nicht-Isländer. Denn dann ist Þorláksmessa – der Tag der stinkenden Rochen, an dem des isländischen Schutzpatrons Þorlákur Þórhallsson gedacht wird. Dieser Rochen wird vor dem Verzehr wochenlang gelagert, damit das darin enthaltene Ammoniak sich zersetzt. Der Gestank muss bestialisch sein. Die Kleidung muss danach chemisch gereinigt werden, selbst die Haut bewahrt den Geruch noch lange.

Kaum einer der notorisch gastfreundlichen Isländer lädt dazu nach Hause ein, weil die Wohnung oder das Haus nach dem Rochenessen lange Zeit als kaum bewohnbar gelten. [...] Jón sagt, im vergangenen Jahr habe er sich beim Verzehr des Fisches aufgrund des Ammoniaks die Mundpartie stark verbrannt. Warum man all das Jahr für Jahr freudig auf sich nimmt? Sie nennen es Weihnachten. Sie nennen es: Tradition. [...]"

https://www.zeit.de/2024/55/islaendische-literatur-maerchen-sagen-mythologie/komplettansicht

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