"[...] Baum: Die Bevölkerung heute empfindet eine ganz andere Unsicherheit. Angst ist unterwegs, und die ist ein hinterhältiger Dämon in einer freien Gesellschaft. Die Vernunft bleibt auf der Strecke. Heute ist das Gefühl verbreitet, dass diejenigen, die uns regieren, versagen. Das ist nur zum Teil richtig. Zu viel wird von ihnen erwartet in einer Zeit, in der sich die Krisen häufen. Vieles gelingt. Aber das dringt nicht durch. Die Sicherheitsbehörden arbeiten gut. Und jetzt tritt wieder massiv das Gefühl hinzu: Der Staat schützt uns nicht. Die Tat ist hier in Nordrhein-Westfalen passiert, mit einer starken Polizei und einem fähigen Innenminister, übrigens von der CDU. [...]
Hinzu kommt, dass wir eine weltweite Krise erleben, einen gefährlichen Moment in der Menschheitsgeschichte. Die Welt ist in Aufruhr. Sie ist aus den Fugen geraten. Es riecht nach Krieg. Nach Gewalt und nach drohender Gewalt überall. Die Menschen finden sich nicht mehr zurecht. Zukunftsängste greifen um sich. Man sucht jemanden, der die Dinge schnell ordnet und regelt. Den gibt es nicht. Das ist die Chance der Populisten. Es sind schwere Zeiten für die Freiheit. [...]
Es ist eine fatale Situation, dass jede dieser Taten – auch die in Mannheim – mit den Muslimen und der Migration in Beziehung gebracht wird. Die Migration wirft Probleme auf, sie ist hier aber nicht das entscheidende Problem. Die Islamisten werden sich ermutigt fühlen, dass ein Volk über Nacht durch einen Täter in völlige Unruhe geraten ist. Sie werden das wiederholen. Es muss ja gar kein Migrant sein. Die Islamisten könnten auch einfach jemanden herschicken. Sie rivalisieren und suchen die Aufmerksamkeit. Der Nahostkonflikt treibt sie an. Seit Monaten warnen die Sicherheitsbehörden vor islamistischem Terror, und sie werden weiter warnen. [...]
ZEIT ONLINE: Aber im konkreten Fall geht es doch gerade um einen Syrer, der eigentlich längst hätte abgeschoben werden sollen. Die Behörden haben das aber nicht hingekriegt.
Baum: Sie haben versagt.
ZEIT ONLINE: CDU-Chef Friedrich Merz fordert einen Aufnahmestopp für Afghanen und Syrer: "Nach Syrien und Afghanistan kann abgeschoben werden, weitere Flüchtlinge aus diesen Ländern nehmen wir nicht auf."
Baum: Das sind Vorschläge außerhalb des geltenden Rechts. Dessen konsequente Anwendung ist wichtig – nicht seine Aushebelung. Opposition und Regierung sollten jetzt Gemeinsamkeiten suchen. Die neuen Maßnahmen in der Ausländerpolitik haben doch etwas gebracht.
ZEIT ONLINE: Für viele Menschen aus Syrien und Afghanistan gilt der sogenannte subsidiäre Schutz: Sie haben keinen Asyl- oder Flüchtlingsstatus erhalten, aber sie stammen aus einem unsicheren Herkunftsland, in dem ihnen die Todesstrafe, Folter, unmenschliche Bestrafung oder Ähnliches droht. Befürworten Sie die Aufhebung dieses Schutzes?
Baum: Nein. Wir sind in einem Dilemma. Personen, die gefährlich werden könnten und kein Aufenthaltsrecht haben, sind oftmals den Sicherheitsbehörden bereits bekannt. Man sollte sie im Blick haben. Das Dilemma ist: Man kann sie nicht abschieben, wenn sie im Heimatland etwa wieder der Folter ausgesetzt werden. Wir müssen alles tun, um die Gefahr vorab zu minimieren. Prävention ist das Stichwort.
ZEIT ONLINE: Noch mal grundsätzlicher: Wie rettet man die Freiheit vor dem Terrorismus?
Baum: Man muss streng darauf achten, ob eine Sicherheitsmaßnahme wirkungsvoll, effizient und notwendig ist. Wenn man das bejaht hat, muss man fragen: Werden die Grenzen beachtet, die unsere Verfassung setzt und die in vielen Urteilen aus Karlsruhe festgeschrieben sind? Es ist die Menschenwürde, die wir verteidigen. Aber bei der Art, wie wir das machen, gibt es Spielräume. [...]
ZEIT ONLINE: Würden Sie denn selbst gerade unbeschwert auf ein Stadtfest gehen?
Baum: Ja. Ich muss doch auch in der vollen Straßenbahn fahren. Ich möchte doch mit Menschen in Kontakt kommen. Überall, wo Menschen sind, könnte sich theoretisch einer auf mich stürzen. Alles in allem: Wir müssen uns um eine Befriedung unserer Gesellschaft bemühen. Wir müssen die großen Transformationen schultern. An erster Stelle die Klimakatastrophe. Bemühen wir uns um Besonnenheit und um ein konstruktives Miteinander. Das ist doch in der Geschichte unserer Republik immer wieder gelungen. Dass wir die Kraft dazu haben, das haben die Bürgerproteste gezeigt. Nach dem Krieg haben die Deutschen der zweifelnden Welt gezeigt: "Wir können Demokratie." Jetzt müssen wir beweisen, dass wir sie verteidigen können."
(https://www.zeit.de/kultur/2024-08/gerhart-rudolf-baum-solingen-terrorismus-islamismus-raf/komplettansicht, ZEIT 27.8.24)
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