Interview mit Hendrik Streeck „Das nahm fast intolerante Züge an“ in Focus, 13.2.23
"[...] Sie selbst sind heute Mitglied im Corona-Expertenrat der Bundesregierung. Es gibt solche Runden also inzwischen.
Streeck: Und das müssen wir weiter ausbauen, auch über Pandemien hinaus. Oft mussten sich die politisch Verantwortlichen zwischen zwei Übeln in der Pandemie entscheiden: Schulschließung oder Infektion der Kinder, um mal ein plakatives Beispiel zu bringen. Da zeigte sich zugleich, dass kein Wissenschaftler allein die Wahrheit gepachtet hat und allein den richtigen Rat geben kann. Expertengremien müssen diverse Fachexpertise vereinen und ergebnisoffen diskutieren. Dass uns diese Ergebnisoffenheit fehlte, das sollten wir noch aufarbeiten.
Wer muss sich dem stellen?
Streeck: Wissenschaft, Politik, die Medien; auch Institutionen wie Robert Koch-Institut (RKI), Paul-Ehrlich-Institut (PEI), Leopoldina, Ständige Impfkommission (Stiko), Ethikrat … Zugleich dürfen nicht ausschließlich jene die Aufarbeitung übernehmen, die selbst im Pandemiemanagement aktiv waren. Das kann nicht funktionieren.
Ein Teil der Bevölkerung fordert mittlerweile Entschuldigungen oder gleich Untersuchungsausschüsse.
Streeck: Da hat sich bedauerlicherweise viel Bitterkeit und Hass aufgestaut. Aber so eine Aufarbeitung ist wichtig, um zu einem gewissen Grad die Spaltung in der Gesellschaft zu überwinden. Dieser Prozess kann durchaus Jahre dauern und benötigt Ressourcen, darf aber auch nicht dazu führen, einzelne Akteure an den Pranger zu stellen. Wir brauchen eine neue, positive Fehlerkultur, um für die Zukunft zu lernen.
Viele Maßnahmen werden im Nachhinein damit entschuldigt, man habe anfangs ja nicht gewusst, wie gefährlich es wird …
Streeck: … was ja auch stimmt. Jede Entscheidung aus der ersten Phase der Pandemie stand unter der Prämisse: lieber zu harte Maßnahmen als zu milde. Es ging um Menschenleben. Präventive Vorsicht war in der allerersten Phase durchaus angeraten. Man hätte nur schneller adaptieren müssen. [...]
Was muss Ihrer Ansicht nach global in den nächsten Jahren angegangen werden als Antwort auf Corona?
Streeck: Wir brauchen intensiven, unideologischen und datenzentrierten Austausch auf internationaler Ebene, deutlich über Viren hinaus. In den USA werden zurzeit die Top-65-Erreger aufgelistet und darauf geprüft, wie gefährlich jeder einzelne von ihnen ist und wie man vorgehen soll, wenn er sich ausbreitet. Die Gefahr liegt bei der Übertragung von Tieren auf den Menschen. Der jüngste Ausbruch der Vogelgrippe in Nerz-Farmen zeigt das Risiko solcher Zoonosen. Es geht deshalb auch darum, Grenzen zu ziehen zwischen uns und der Tierwelt. Internationale Gesundheitspolitik bedeutet also auch, global über Artenschutz und den Stopp von Entwaldung zu reden. [...]"
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