Freitag, 30. September 2022

Erfundene Zitate Berühmtheiten untergeschoben

  In Zeiten des Internet nimmt es zu, doch ist es auch leichter überprüfbar, weil inzwischen viele Gesamtausgaben digital durchsucht werden können.

Gerald Krieghofer widmet sich der Suche nach solchen Fehlzitaten auf der Seite Zitatforschung. Den Hinweis verdanke ich Michael Allmaiers Artikel in der Zeit vom 29.9.22: Falsch verbunden.

Aus meiner Sicht ist der Klassiker dieser Zitate:

"Trau keiner Statistik, die du nicht selber gefälscht hast." (Churchill)

Lange dachte ich, Churchill habe das wirklich einmal scherzhaft gesagt oder geschrieben. Dann stieß ich auf den Hinweis, Goebbels habe dieses angebliche Churchill-Zitat erfunden. Inzwischen scheint mir der Sprung von Churchill zu Goebbels zu naheliegend, als dass er überzeugend wirkt. Nämlich dafür müsste Goebbels ja gemeint haben, man könne Churchill ernsthaft nachsagen, er habe sich dazu bekannt, Statistiken gefälscht zu haben. 

Zur Geschichte der Zuschreibung dieser Aussage an verschiedene Personen äußert sich Krieghofer recht ausführlich.

Außer Einstein werden - mehr oder minder - geistreiche Einfälle gern auch Alfons dem Weisen (Alfons X. von Kastilien) zugeschrieben, manchmal Konfuzius oder gleich ganz allgemein als "Chinesische Weisheit" bezeichnet.

Eine Bekannte von mir würzt Geburtstags- und Jubiläumsansprachen gern mit ad hoc erfundenen "chinesischen Weisheiten". Wenn diese allzu ernst genommen werden, löst sie die Pseudozuschreibung freilich auch gleich auf.


Dänemark ist digitalisiert

Innerhalb Dänemark gibt es keinen Papierpostverkehr mehr, Papierpost wird daher nur noch einmal in der Woche zugestellt. Es ist ja nur noch die aus dem Ausland.

Freilich:

"In allen Altersklassen finden sich erhebliche kognitive, psychische oder andere Barrieren, alles in allem nach den neuen Schätzungen bei rund einer Million von insgesamt 5,8 Millionen Menschen in Dänemark. Zu denen zählen auch diejenigen, für die der Kauf eines Laptops und dem zusätzlich unverzichtbaren Smartphone oder Tablet die Kasse schwer belastet."

(Sie haben keine Post FR 29.9.22)

Fast genauso bedenklich ist für mich: Die Meldung entnehme ich meiner Papierzeitung. Obwohl sie seit gestern im Netz steht, habe ich sie unter den vielen Nachrichten nicht entdeckt. Begonnen wurde diese radikale Digitalisierung bereits 2014. Geschehen ist das in unserem Nachbarland. Während ich von der digitalen Erfassung der Bevölkerung in China seit langem immer wieder höre, wusste ich über die in Dänemark nichts.

Die Juristin Eriksson schreibt dazu:

"[...] Ich bin bei den Dokumenten zur staatlichen Digitalisierung nicht ein einziges Mal auf den Begriff Rechtssicherheit gestoßen. Es geht immer nur um die Frage: Kannst du oder kannst du nicht? Das finde ich beunruhigend. [...] Dabei haben meine Untersuchungen und die vielen jüngsten Berichte Betroffener in der Zeitung „Politiken“ gezeigt, dass eigentlich viel mehr als die 25 Prozent digital Abgehängten mitunter enorme Probleme haben. Mich eingeschlossen. Die haben bisher nicht gewagt, dies zu äußern, sondern sich für ihr Problem geschämt und diskret Hilfe bei Angehörigen gesucht. Jetzt melden sie sich endlich zu Wort.[...]"

"Der digitale Expresszug wirft zu viele Menschen ab" FR 29.9.22

Donnerstag, 29. September 2022

Zuhörkiosk

"Wenn Britta Hake den kleinen Kiosk in der Hamburger U-Bahnhaltestelle Emilienstraße öffnet, dann nicht, um Zeitungen zu verkaufen. Sie ist eine von gut zehn Ehrenamtlichen, die montags bis freitags im Zuhörkiosk für Passanten ansprechbar sind. Egal, ob Glücksmomente, Liebeskummer oder große Lebensnöte, alle finden hier ein offenes Ohr - anonym und kostenlos [...]" (Kritina Tesch: Zuhören ist wie Essen und Trinken evangelisch.de 29.9.22)


Montag, 26. September 2022

Hirschausen zu Long-Covid

Hirschhausen zu Long-Covid: „Mich schockiert die Ignoranz von manchen Medizinern“ utopia 26.9.22
"[...] Jede:r zehnte Infizierte leidet an Long-Covid und ist mindestens drei Monate lang stärker beeinträchtigt, erklärt von Hirschhausen in der WDR-Reportage. Nicht alle Verläufe sind extrem, aber eine Long-Covid-Erkrankung kann auch zu massiven gesundheitlichen Einschränkungen führen, das zeigen zahlreiche Schicksale im Film.

Das sind hunderttausende Menschen, die ohne Behandlung kaum Aussicht auf Besserung haben und deren Zustand oft chronisch wird“, so Eckart von Hirschhausen. [...]"

Sonntag, 25. September 2022

Die zwei Körper der Königin Elisabeth

 Die Lehre von den zwei Körpern des Königs von Edmund Plowden, dem sterblichen, der begraben werden kann, und dem unsterblichen, der der Geschichte angehört, wurde 1588 vertreten, geht aber auf das antike Verständnis von Körper zurück.

Bei der Beerdigung Elisabeth II. gewann es wieder eine gewisse Aktualität: Peter Kümmel: "Die Woche, in der wir Abschied nehmen", Die ZEIT Nr.38 vom 15.9.2022, S.45 

Samstag, 24. September 2022

Stolpersteine am Goethegymnasium

 „Ich frage mich, was mein Großvater zu dem heutigen Gespräch sagen würde.“ Diese Frage stellte sich einer der Nachfahren, die das Team der Geschichtswerkstatt im Rahmen der Nachforschungen zu jüdischen Goethe-Schülerinnen und deren Familien durchführten. Insgesamt 63 Stolpersteine wurden seit September 2021 in unserer Region verlegt – ein besonderes Projekt des Goethe-Gymnasiums zum 150. Schuljubiläum. Welche Arbeit in den Nachforschungen steckt, welche Emotionen damit auf beiden Seiten ausgelöst wurden und was daraus für den Aufarbeitung des Holocaust insgesamt abgeleitet werden kann, lohnt es sich, immer wieder zu betrachten.

Sieh auch:

Stolperstein (Wikipedia)
Stolpertweets
 Blogartikel dazu: 
Der goldene Stein - ein Stolperstein und seine Verlegung in Berlin (Fontanefan)

"In der Nacht zum 7. Oktober 2024, dem Jahrestag des Massakers der Hamas in Israel, werden in Zeitz sämtliche Stolpersteine herausgebrochen und gestohlen. Spurensuche in einer geplagten Stadt" 

Montag, 19. September 2022

Viele gleichzeitige Krisen und die Vereinten Nationen

UN-Generalsekretär Guterres im Interview

 "[...] Guterres: Die Vereinten Nationen sind mehr als nur der Sicherheitsrat. Sie sind auch die Generalversammlung, die in den letzten Monaten einige wichtige Entscheidungen treffen konnte. Und sie sind vermutlich die einzige Institution, die in einer Situation wie dieser mit allen Parteien sprechen und ermöglichen kann, dass es einen Dialog und irgendwann auch Kompromisse gibt. Das humanitäre Engagement der Vereinten Nationen ist einzigartig. Wenn Sie sich anschauen, was das Welternährungsprogramm gegen den Hunger tut, Unicef zum Schutz von Kindern, oder was das Flüchtlingshilfswerk tut, um Migranten und Geflüchtete zu unterstützen, oder die Internationale Atomenergie-Organisation, um ein Desaster in ukrainischen Atomkraftwerken zu verhindern. Die Vereinten Nationen haben viele Gesichter. Und in manchen Bereichen sind sie relevant genug, um das Schlimmste zu verhindern. [...]"

(ZEIT ONLINE 19.9.22)

Geimpfte 96-Jährige bekommt Corona

 "Du hast kürzlich Corona gehabt. Wie ist Corona mit 96 Jahren? [...]

Ach was, mir lief die Nase, ich hatte etwas Fieber, keinen Appetit, war matt, aber das war’s dann auch. Erst nach sechs Tagen war ein Test positiv. Die Impfung hat das Schlimmste ferngehalten.

Und dann?

Hab ich meine Hausärztin angerufen, und die hat gesagt: Wenn mehr nicht kommt …

 Wie hast Du Dich versorgt? 

 Als alte Hausfrau hat man immer Vorräte. Die Leute von der Tagesmütterzentrale, mit denen ich verabredet war, fragten gleich: Oh, können wir dir was einkaufen? Ich sagte: Ja – ein Pfund Spargel und ein Pfund Erdbeeren. Stunde später standen sie vor der Tür.

Das war alles? Für eine Woche?# Eine Woche ist ja nicht lang. Erstens esse ich nicht so furchtbar viel. Zweitens hab ich Kartoffeln, Reis, Nudeln und so was doch da. Und immer kleine fertig gekochte Gerichte im Tiefkühl. Wenn ich mir eine Gemüsesuppe koche, friere ich mindestens vier Portionen ein. [...]"

(FR 18.7.22)

Sonntag, 18. September 2022

Quilombolas

"Seit 1988 sind die Landrechte der Quilombolas in der brasilianischen Verfassung verankert. Mit der Vorgabe befindet sich Brasilien unter den Vorreiterländern für die Rechte nicht-indigener lokaler Gemeinschaften, die ein traditionelles Leben führen.[4]" (Wikipedia)

Da Quilombolas Siedlungen von geflohenen schwarzen Sklaven waren und sind, handelt es sich nicht um Indigene im strengen Sinn, aber um Menchen, die ihre traditionellen Kulturen in Abgrenzung von der Gesamtgesellschaft bewahren.

China und Russland

SCO-Gipfel: Eine subtile Warnung an Putin 

Bei seiner ersten Auslandsreise seit Pandemiebeginn trifft Xi Jinping in Usbekistan auf Wladimir Putin. Sein Fokus ist aber ein anderer: mehr Einfluss in Zentralasien. 

Eine Analyse von Michael Radunski ZEIT 16. 9.22

[...]

Die machtpolitische Schieflage zwischen China und Russland 

 Am Mittwoch in Kasachstan sagte Xi gegenüber Präsident Kassym-Schomart Tokajew: "Unabhängig davon, wie sich die internationale Situation ändert, werden wir Kasachstan weiterhin entschlossen beim Schutz seiner Unabhängigkeit, Souveränität und territorialen Integrität unterstützen." China werde sich kategorisch der Einmischung jeglicher Kräfte in die inneren Angelegenheiten des Landes widersetzen. "Das ist eine subtile, aber doch sehr klare Warnung an Putin", urteilt Expertin Eva Seiwert. [...]

Auf taktischer Ebene sucht Xi den Schulterschluss mit Putin – gegen die USA und gegen den wachsenden wirtschaftlichen Druck des Westens. Er zeigt Verständnis für Russlands Angriff, hält sich aber gleichzeitig an die westlichen Sanktionen. Xi will keine feste Entente mit Russland eingehen. Denn auf strategischer Ebene will China den globalen Marktzugang behalten und trotz aller Dissonanzen die Verbindungen zum Westen nicht komplett abreißen lassen.

Dieser Beitrag wurde übernommen aus dem China.Table Professional Briefing vom 16. September 2022.

sieh auch:

Freitag, 16. September 2022

Habermas: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und Precht/Welzer:Die vierte Gewalt

Jürgen Habermas: Die neue, erst noch entstehende Öffentlichkeit 
Von Arno Widmann FR 15.09.2022 über

Jürgen Habermas: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Suhrkamp, Berlin 2022. 108 S., 18 Euro.

[...] Es ist die überarbeitete Fassung eines großen Artikels in einem Sonderheft der Zeitschrift „Leviathan“ zum Thema „Ein erneuter Strukturwandel der Öffentlichkeit?“. [...]

Es [das Buch] beschränkt sich auf die Rolle, die der neue Strukturwandel der Öffentlichkeit für die „deliberative Politik“ spielt. Deliberative Politik? „Deliberatio“ heißt Beratschlagung auf Latein. [...] Gemeint ist eine Politik, bei der aus verschiedenen Ansichten, Meinungen in einer öffentlichen Auseinandersetzung ein gemeinsamer Weg gefunden wird. Demokratische Gesellschaften sind darauf angewiesen, dass das nicht nur die Politiker:innen tun. Die Staatsbürger und Staatsbürgerinnen selbst müssen einander so begegnen. Sie müssen einander anerkennen, und sie müssen sich kundig machen, um vernünftige Entscheidungen oder doch wenigstens vernünftige Begründungen für sie entwickeln zu können.

Das Internet hat die größte Öffentlichkeit hergestellt, die es jemals gab. Niemals war es leichter, sich über unterschiedlichste Vorgänge und deren Interpretationen zu informieren. Niemals konnte man mit mehr Menschen kommunizieren. Aber gerade das lässt das Verlangen nach Zugehörigkeit wachsen. Man sucht sich Freunde, bleibt mit denen in einer Blase hängen und verzichtet auf die Kommunikation mit den Vertreter:innen anderer Ansichten. Je stärker diese Tendenz wird, desto schwieriger wird es mit der Demokratie.

An anderer Stelle hat Widmann den Gedankengang von Habermas noch plastischer formuliert:

"Die digitale Revolution hat uns alle zu potentiellen Autoren gemacht, schreibt Habermas. Die sozialen Medien lassen unserer „Plapperlust“ freien Lauf. Sie sind die allen ungefiltert zugängige Öffentlichkeit. Durch sie erst sind die Medien wirklich nichts als Medien. Die Kontrollinstanzen von z. B. Redakteur und Lektor entfallen. Jeder kann jedem twittern. Auch die Politiker sind nicht mehr angewiesen auf „Bild und Glotze“. Sie erreichen ihre Follower direkt. Habermas begrüßt ausdrücklich die so stattfindende „Inklusion“. Es handelt sich zweifelsohne um einen demokratischen Schub. Aber er gefährdet, so dialektisch geht es zu, die Demokratie. Nein, das Wort dialektisch verwendet Habermas nicht. Aber er beschreibt diesen zwiespältigen Vorgang sehr genau. Habermas sieht die Gefahr, dass „sich die Meinungsbildung in den zersplitterten und gleichzeitig von selektiven Standards entlasteten Kommunikationsblasen gegen die rationalisierende Kraft einer diskursiven Vielfalt der Beiträge immunisiert.“

Sieh auch:
Sind die digitalen Medien eine Gefahr für die Gesellschaft? In seinem neuen Buch schaut Jürgen Habermas besorgt auf einen neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit. Eine Rezension von Peter Neumann, ZEIT 22.9.22

"[...] Nicht die [...] immer befürchtete Herrschaft des Allgemeinen, des Austauschbaren, das alles Einzelne unterschiedslos unter sich zu begraben droht, lauert heute noch am Horizont der Gesellschaftstheorie. Im Gegenteil: Inzwischen ist es die Herrschaft des Besonderen und Singulären, die die Aufklärung in ein falsches Freiheitsversprechen zurückfallen lässt. Je fein ziselierter und individueller sich eine Gesellschaft gibt, desto schwerer wird es, über dem mehr oder minder berechtigten Selbstinteresse das Gemeinwohl nicht aus den Augen zu verlieren. An dieser Volte im Spätwerk des 93-Jährigen dürften künftige Nachfolger der Kritischen Theorie noch lange zu knabbern haben. [...]"

Weitere Rezensionen in Kurzfassung bei Perlentaucher

Dasselbe Phänomen des Auseinanderfalles von (in den Qualitätsmedien) veröffentlichter Meinung und der ungefilterten Meinung der vielen anderen beschreiben:

R.D. Precht u. H. Welzer: Die vierte Gewalt, Fischer Verlag 2022

Der erste Satz laut FR (26.9.22, S.20/21): "Deutschland, eines der freiesten Länder der Welt, hat ein Problem mit der gefühlten Meinungsfreiheit." 
Weiter in der FR: "Dass die beiden ernstzunehmenden und um Empirie bemühten Intellektuellen dieser Aussage die Zahlen einer Umfrage folgen lassen, ehrt sie. Nur, sie müssten wissen, dass ihre These, die sie öffentlichkeitswirksam vertreten, zu solchen Umfrageergebnissen beitragen kann, die dann diese These wiederum belegen sollen." 
Dass die Autoren auf diese Umfrage hinweisen, nimmt der FR-Autor Benninghoff ihnen freilich übel und schreibt deshalb weiter: "Ein Zirkelschluss, der das ganze Elend populistischer Meinungsdebatten auf den Punkt bringt."
Dass einem Autor der Qualitätsmedien die Kritik der Autoren nicht gefällt und er sie seinerseits kritisiert, kann man ihm nicht übelnehmen. Nur dass der Hinweis auf einen Sachverhalt ein unzulässiger Zirkelschluss sein sollte, will mir nicht recht einleuchten.
Zumal deshalb nicht, weil sie dazu beitragen wollen, den Sachverhalt zu beseitigen, nämlich, dass Meinungsfreiheit als bedroht gefühlt wird.

weitere Rezensionen: NDR FAZ
Interview mit den Autoren: ZEIT

Ich habe meinerseits festgestellt, dass ich die Artikel der Wochenzeitung "Der Freitag" erfrischend finde, auch wenn sie m.E. des öfteren daneben liegen, einfach deshalb, weil da abweichende Meinungen intelligent vertreten werden. 
Allerdings kommt etwas Entscheidendes hinzu: Es wird immer wieder auf Sachverhalte hingewiesen, die mir in anderen Qualitätsmedien entgangen sind. Das passiert mir so oft sonst nur in ausländischen Presseerzeugnissen. 

Dass die Überlegungen von Habermas, Precht und Welzer nicht ganz neu sind, zeigt der folgende Abschnitt aus einem Artikel von vor über 7 Jahren:

"[...] Der gesamte Mechanismus der Weltaneignung und Wirklichkeitskonstruktion, den Disintermediation ermöglicht, ist also zwiespältig: Er kann uns befreien, weil auf einmal für jeden sichtbar die Diktatur der Mono-Perspektive zerbröselt. Und er kann uns in eine neue Verbiesterung und ideologische Verhärtung hineinlocken, weil sich nun der Einzelne – ohne offizielles Korrektiv, ohne die Irritation durch einen allgemein anerkannten Glaubwürdigkeitsfilter – seine Weltsicht zusammenbasteln und in seine höchstpersönliche Wirklichkeitsblase hineingoogeln kann.
[...] Worauf es insgesamt ankommt, ebendies meint Disintermediation bei gleichzeitiger Hyperintermediation*: Es entstehen, parallel zur publizistischen Selbstermächtigung des Einzelnen, Nachrichten- und Weltbildmaschinen eigener Art, globale Monopole der Wirklichkeitskonstruktion, die längst mächtiger sind als die klassischen Nachrichtenmacher. [...] Diese Gesellschaft braucht also, will sie nicht ihre liberal-aufklärerische Tradition verlassen, Denkräume und Wertedebatten, um die Frage nach der publizistischen Verantwortung in der öffentlichen Sphäre neu zu stellen, sie überhaupt erst zu behandeln. [...] Die neuen Player in der Erregungsarena der Gegenwart sind längst mitten unter uns, und es wäre fatal, die Frage nach der publizistischen Verantwortung aller weiterhin zu ignorieren. [...]" (Pöbeleien im Netz ersticken Debatten. Wir brauchen endlich Regeln! Ein Appell von Bernhard Pörksen, Die ZEIT 25.6.2015
*It's the proliferation—not elimination—of intermediaries that has made blogging so widespread.  The right term here is “hyperintermediation,” not “disintermediation.”(Intermediaries online are more powerful, and more subtle, than ever before.)

Meinen (Fontanefans) Kommentar zu Pörskens Artikel habe ich damals so formuliert:
"Dass man sich "in seine höchstpersönliche Wirklichkeitsblase hineingoogeln kann" sehe ich als gesellschaftliche Gefahr, wenn es keine Konkurrenz von anspruchsvollen Redaktionen mehr gibt. (Deshalb sehe ich auch im Monopol der Wikipedia eine Gefahr, ohne das hier weiter zu begründen.)
Freilich, da ich in der Ukrainekrise [das bezog sich auf die von 2014] wie der griechischen Finanzkrise weitgehend eine unkritische Übernahme der EU-Perspektive durch die Medien beobachtet habe, befürchte ich, dass auch die traditionellen Medien - aufgrund welcher Mechanismen auch immer - keine zureichende Meinungsvielfalt mehr generieren können." 

Montag, 12. September 2022

Leid und Trost

 XXIII.

     Warum sind denn die Rosen so blaß,

O sprich, mein Lieb, warum?
Warum sind denn im grünen Gras
Die blauen Veilchen so stumm?

5

     Warum singt denn mit so kläglichem Laut

Die Lerche in der Luft?
Warum steigt denn aus dem Balsamkraut
Hervor ein Leichenduft?

     Warum scheint denn die Sonn’ auf die Au’

10

So kalt und verdrießlich herab?

Warum ist denn die Erde so grau
Und öde wie ein Grab?

     Warum bin ich selbst so krank und so trüb’,
Mein liebes Liebchen, sprich?

15

O sprich, mein herzallerliebstes Lieb,

Warum verließest du mich?

(Heinrich Heine: Buch der Lieder)



Was einen im Alter angreift: Müdigkeit, Schwäche, Schmerzen, ...


Das gab es schon in der Jugend bei Verlusten. Unsere vierjährige Enkelin Mia muss ihre Freundinnen und ihren sechsjährigen Freund verlassen, weil ihre Eltern in die Großstadt Karlsruhe ziehen.

Unser Sohn Martin verlor sein Schmusetier, als er es einmal in der Schule mitnahm. Auf einem Schulbazar sahen wir Eltern es wieder und kauften es zurück. Jetzt ist er 46 Jahre alt und hat es über 40 Jahre lang wieder.

In der Kindheit hat jeder Schmerz fast Ewigkeitswert, aber er ist zum Glück meist bald vorbei.

Heine hat diesen Trost, den wir den Jungen zu geben versucht sind, auch gleich formuliert.


Das Fräulein stand am Meere

Das Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang,
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.

Mein Fräulein! sein Sie munter,
Das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück.


Als Lied klang der "Trost" so:


Otto Reutter (1870-1931)


In fünfzig Jahren ist alles vorbei!


Denk stets, wenn etwas dir nicht gefällt:
"Es währt nichts ewig auf dieser Welt!"
Der kleinste Ärger, die größte Qual
Sind nicht von Dauer, sie enden mal!
Drum sei dein Trost, was immer es sei:
"In fünfzig Jahren ist alles vorbei!"

Und ist alles teuer, dann murre nicht
Und holt man die Steuer, dann knurre nicht
Und nimmt man dir Alles, dann klage nicht
Und kriegst du 'n Dalles, verzage nicht –
Nur der, der nichts hat, ist glücklich und frei
Und in fünfzig Jahren ist alles vorbei!


Und geht zu 'nem Andern dein Mägdelein
Dann schick' ihr noch's Reisegeld hinterdrein
Und bist du traurig, denk in der Pein:
"Wie traurig wird bald der Andere sein!"
Dem macht sie's wie dir — die bleibt nicht treu
Und in fünfzig Jahren ist alles vorbei!

Und siehst du 'ne Zeitung, dann schau nicht hin
Es steht ja doch bloß was Schlechtes drin!
Und schafft dir die Politik Verdruss:
Es kommt ja doch alles, wie's kommen muss!
Heut' haben wir die, morgen jene Partei
Und in fünfzig Jahren ist alles vorbei!

Und stehst du nervös an 'nem Telefon
Und du stehst und verstehst da nicht einen Ton
Oder bist beim Zahnarzt – wenn er dich greift
Und dich mit dem Zahn durch die Zimmer schleift
Und er zieht und er zieht und bricht alles entzwei –
Äh, in fünfzig Jahren ist alles vorbei!


Und platzt dir ein Knopf – am Hemd zumeist –
Und hast du ein Schuhband, das stets zerreißt
Und hast'ne Zigarre du, die nicht zieht
Und hast du ein Streichholz, das gar nicht glüht:
Nimm noch 'ne Schachtel, nimm zwei oder drei –
Äh, in fünfzig Jahren ist alles vorbei!


Und fälscht man dir Schokolade und Tee
Und verspricht man dir echten Bohnen-Kaffee
Und du merkst, dass der Kaffee – wie schauderbar! –
Eine bohnen-lose Gemeinheit war
Dann schließ die Augen und sauf den Brei –
Äh, in fünfzig Jahren ist alles vorbei!

Und sitzt in der Bahn du ganz eingezwängt
Und dir wird noch 'ne Frau auf'n Schoß gedrängt
Und die hat noch 'ne Schachtel auf ihrem Schoß
Und du wirst die beiden Schachteln nicht los
Und die Füße werden dir schwer wie Blei –
Äh, in fünfzig Jahren ist alles vorbei!

Und bist du ein Eh'mann und kommst nach Haus
Halb drei in der Nacht und se schimpft dich aus
Dann schmeiß dich ins Bette und sag: "Verzeih!
Wär' ich zu Hause geblieben, wär's ooch halb drei!"
Und kehr ihr den Rücken und denk: „Nu schrei!
Äh, in fünfzig Jahren ist alles vorbei!"

Und fürchte dich nie, ist der Tod auch nah –
Je mehr du ihn fürcht'st, um so eh'r ist er da!
Vorm Tode sich fürchten, hat keinen Zweck –
Man erlebt'n ja nicht, wenn er kommt, ist man weg!
Und schließlich kommen wir all' an die Reih'
Und in fünfzig Jahren ist alles vorbei!


Drum:
Hast du noch Wein, dann trink ihn aus
Und hast du ein Mädel, dann bring's nach Haus!
Und freu dich hier unten beim Erdenlicht –
Wie's unten ist, weißt du – wie oben nicht!
Nur einmal blüht im Jahre der Mai
Und in fünfzig Jahren ist alles vorbei –
Du Rindvieh, dann isses vorbei!


Otto Reutter entwickelte sich bald zu einem gefragten Sänger. Ab 1915, im Ersten Weltkrieg, gab er im angemieteten Palasttheater am Zoo in Berlin sogenannte Kriegsrevuen. Ab Ende 1916 sang er dann auch Lieder, in denen das Geschehen und die allgemeine Meinung teilweise eher kritisch als humorvoll dargestellt wurde. So erzählt das Lied Ich möcht’ erwachen beim Sonnenschein eher melancholisch, teilweise sogar sehr traurig über die allgemeine Stimmung in der Nachkriegszeit. Reutter beklagte den Verlust seines Sohnes Otto Reutter jun. (geb. 1896) in der Schlacht um Verdun im Mai 1916.

In den 1920er Jahren trat Otto Reutter mit seinen Couplets vor allem im Wintergarten auf. Aus dieser Zeit sind einige Couplets wie In fünfzig Jahren ist alles vorbei noch heute bekannt. Kurt Tucholsky beschrieb im Januar 1921 einen Auftritt Reutters:[3]

Die Pointen fallen ganz leise, wie Schnee bei Windstille an einem stillen Winterabend. (...) Alles geht aus dem leichtesten Handgelenk, er schwitzt nicht, er brüllt nicht, er haucht seine Spitzen in die Luft, und alles liegt auf dem Bauch.


Samstag, 10. September 2022

Zur Kritik an "kultureller Aneignung"

 Die Emotion: "Was soll ich mir denn noch vorschreiben lassen?! ist sehr gut nachvollziehbar.

Vielleicht hilft es aber, mehr Verständnis dafür zu entwickeln, wenn man dazu ein Gespräch mitzuverfolgen kann.

https://www.gmx.net/magazine/unterhaltung/kultur/kultur-experte-winnetou-kindern-unterjubeln-37238990

Zur Einordnung von Karl Mays Winnetou hier etwas über Deutsche und Indianer:

https://www.karl-may-wiki.de/index.php/Indianer_und_Deutsche

Freitag, 9. September 2022

Von der Teilung Indiens 1947

Unter der Teilung Indiens versteht man die Aufteilung des vormaligen Britisch-Indien aufgrund religiöser und ethnischer Auseinandersetzungen, die schließlich am 14. und 15. August 1947 zur Gründung zweier unabhängiger Staaten führten: Pakistan und Indien. [...]

Die Aufteilung des ehemaligen Britisch-Indiens in zwei Dominions war im Indian Independence Act 1947 festgeschrieben worden und markierte das Ende der britischen Kolonialherrschaft auf dem indischen Subkontinent.

Im Verlauf des Teilungsprozesses kam es zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen, die zum Tod von mehreren hunderttausend Menschen führten. Einige Autoren sprechen von bis zu einer Million Opfern oder mehr.[1] Etwa 20 Millionen Menschen wurden im Zuge der Aufteilung Britisch-Indiens deportiert, vertrieben oder umgesiedelt.[2][3]" (Wikipedia: Teilung Indiens mit Karte)

"Nach Kriegsende [2. Weltkrieg] eskalierten die Feindseligkeiten zwischen Hindus und Muslimen und schließlich stimmten auch Jawaharlal Nehru und Mahatma Gandhi, die Führer des Indischen Nationalkongresses, der Teilung Indiens mit Abtrennung der muslimischen Gebiete in Form eines neuen politischen Gebildes „Pakistan“ zu, wie das von der Muslim-Liga gefordert wurde. 1947 wurden nahezu zeitgleich Pakistan und Indien als Dominions im Rahmen des Britischen Commonwealths unabhängig. Die Grenzlinie zwischen beiden Staaten wurde durch den britischen Beamten Cyril Radcliffe ausgearbeitet und buchstäblich erst in letzter Minute vor dem Teilungsakt der Öffentlichkeit präsentiert. Danach kam es zu Gewaltausbrüchen und zu überstürzten massenhaften Fluchtbewegungen von Hindus aus Pakistan und Muslimen aus Indien, bei denen mehr als eine Million Menschen ihr Leben verloren. Mahatma Gandhi wurde am 30. Januar 1948 von einem fanatischen Hindu erschossen." (Wikipedia)


The Guardian 14.08.2022:

 "Vor 75 Jahren, am 15. August 1947, wurde der Subkontinent entlang religiöser Grenzen geteilt und in zwei unabhängige Staaten, Indien und Pakistan, geteilt. Es sollte eine blutige und bittere Teilung werden. Nach 300 Jahren offizieller britischer Präsenz wollten die Schlüsselfiguren der indischen Unabhängigkeit, Mahatma Gandhi und sein Schützling und späterer Premierminister Jawaharlal Nehru, ein einheitliches, säkulares Land schaffen. Der politische Führer der Muslime, Muhammad Ali Jinnah, plädierte dagegen für einen separaten Staat für Muslime, da er die Auswirkungen eines mehrheitlich von Hindus bewohnten Indiens fürchtete.

Als die religiösen Spannungen zunahmen, kam es zu tödlichen Unruhen, die sich zunächst gegen Hindus, dann gegen Muslime und schließlich gegen Sikhs richteten. Die Briten, die sich schnell aus Indien zurückziehen wollten, sorgten für eine grobe Grenzziehung, die die indischen Staaten Punjab im Westen und Bengalen im Osten voneinander trennte, so dass ein unzusammenhängendes Pakistan entstand, das alle Gemeinschaften verärgerte. 

Dies führte zu einem gegenseitigen Völkermord auf beiden Seiten der neuen Grenze. Ganze Dörfer wurden angezündet, Kinder wurden massakriert und schätzungsweise 75 000 Frauen vergewaltigt. Im Punjab, dem Zentrum der Gewalt, wurden schwangeren Frauen die Babys aus dem Bauch geschnitten, und Züge voller Flüchtlinge - Muslime, die aus dem indischen Punjab flohen, Sikhs und Hindus, die aus Westpakistan flohen - wurden überfallen und kamen an Bahnhöfen an, die mit stummen, blutigen Leichen gefüllt waren.

Die tatsächliche Zahl der Todesopfer ist bis heute nicht bekannt, die Schätzungen reichen von 200.000 bis zu 2 Millionen, und es kam zur größten Zwangsmigration in der Geschichte, da mehr als 14 Millionen Menschen aus ihrer Heimat flohen. Von diesem Zeitpunkt an waren Indien und Pakistan Todfeinde, getrennt durch eine Grenze, die im Laufe der Jahrzehnte immer brüchiger und undurchdringlicher werden sollte.

Familien, die in dem Chaos und der Brutalität gefangen waren, mussten alles zurücklassen, und viele wurden bei der Überfahrt nach Indien oder Pakistan getrennt. Obwohl viele verzweifelt versuchten, über Zeitungsannoncen, Briefe und Nachrichten an Schwarzen Brettern zueinander zu finden, war die grenzüberschreitende Kommunikation begrenzt. Visabeschränkungen und eine tief verwurzelte Angst vor der "anderen Seite" hinderten die meisten auch daran, jemals wieder über die Grenze zu gehen.

Doch in jüngster Zeit haben die sozialen Medien ein Reich neuer Möglichkeiten eröffnet. Facebook-Seiten und YouTube-Kanäle mit zum Teil Tausenden von Mitgliedern aus Indien und Pakistan haben begonnen, die Menschen wieder mit den Häusern und Familienmitgliedern in Verbindung zu bringen, die sie während der Teilung und des daraus resultierenden Konflikts, der auch Kaschmir spaltete, verloren haben." (Übersetzt mit www.DeepL.com/Translator (kostenlose Version))

"Finally we are together" The Guardian 14.08.2022


AKW in Reserve - viel Risiko, wenig Nutzen

 http://www.umweltinstitut.org/aktuelle-meldungen/meldungen/2022/atom/akw-in-reserve-viel-risiko-wenig-nutzen.html?

Zur Rolle der Queen

 "Es gab mit der Queen noch eine Instanz, eine überwölbende Identifikationsfigur, die weit über den parteipolitischen Kämpfen stand, in einem völlig anderen Ausmaß als die ja doch immer gewählten, und damit den jeweils aktuellen Mehrheitsverhältnissen ausgesetzten repräsentativen Staatsoberhäupter anderer Länder, beispielsweise der deutsche Bundespräsident. Die Briten konnten, wenn sie in den kollektiven Spiegel sahen, darin noch die vornehme Beständigkeit von Elisabeth erkennen. Nun sehen sie da Liz Truss. Oder Keir Starmer. Parteipolitiker jedenfalls, das Personal eines krisenhaften Alltags. So ist der Tod der Queen auch der Moment, in dem die Briten sich selbst und die von ihnen geschaffenen politischen Zustände erkennen müssen. Es ist das Ende einer Selbsttäuschung. 

 Zu dieser Selbsttäuschung gehört auch das mentale Festhalten am alten Empirestatus. Als ihr Vater 1952 starb und sie Königin wurde, war Elisabeth gerade in Kenia unterwegs, einer der vielen damaligen Kolonien des britischen Weltreichs. Dieses Weltreich gibt es schon lang nicht mehr, aber weil die Königin noch die gleiche war wie zu Empirezeiten, konnte sich auch das kollektive Selbstbild der Briten nie ganz von der (für sie) glorreichen Vergangenheit lösen. Es gab an der Spitze des Staates keinen personellen Bruch mit dieser längst vergangenen Epoche, das postimperiale Britannien konnte vielleicht deshalb nie ganz in der Gegenwart ankommen, weil in ihrer höchsten Repräsentantin die Vergangenheit symbolisch noch weiterlebte. So hielt sich auch die kolonialistische Vorstellung, andere für die eigenen Probleme und Kosten in Haftung nehmen zu wollen: die Franzosen für die Migration, die EU für den wirtschaftlichen Abstieg und sowieso alles Schlechte. Die britische Politik war zuletzt geprägt von einer chronischen Verantwortungsflucht. Viele der führenden Personen erwecken den Eindruck, sie und das Land hätten eine Art historisch gewachsenen Anspruch auf Wohlergehen. Die Armut explodiert, das Gesundheitssystem ist ruiniert, aber die neue Premierministerin plant eine Umverteilungspolitik von unten nach oben, als ginge das nichts an. Der Financial Times-Kolumnist Simon Kuper klagt schon, das Land verwandele sich in ein zweites Brasilien. Die Hoffnung wäre, dass das Land nun seine Empire-Phantomschmerzen loswird und sich der Gegenwart umso engagierter stellt: Großbritannien ist nicht mehr groß, sondern ein vergleichsweise kleines Land mit vergleichsweise großen, selbstverschuldeten Problemen." (Tod von Queen Elizabeth II: Die Mitte ist leerVon  und  ZEIT 9.9.2022)

Ich stimme dieser Analyse so nicht zu, doch m.E. ist etwas Wahres daran. Und diese Teilwahrheit trifft auch EU, Europa und den "Westen"*. Schuld sind die anderen. 

Das gilt auch für Russland und China, die Pandemie ("Der Virus ist schuld!") und den Klimawandel ("Wer konnte denn ahnen, dass er sich nicht an die politischen Spielregeln hält und die Menschenwürde nicht achtet mit seiner Gleichmacherei von Menschen und Tieren!") 

Aber vor alle: Warum gibt es die anderen, die Tausende, die ertrinken und denen wir nicht die Schuld geben können! - Selbst die Briten zeigen etwas vom Allgemeinmenschlichen.

*So angenehm war an der Humanitären Intervention, dass sie Vorwärtsverteidigung des Westens am Hindukusch und überall in der Welt rechtfertigte, so lange sie ihren Zweck ("nationales Interesse") erfüllte.

Geht im Netz nichts verloren?

 

Leider verweisen trotz der verdienstvollen web-archive immer wieder Links in der Wikipedia ins Imaginäre.
Nur Peinlichkeiten werden immer wieder der Vergessenheit entrissen, und seien sie noch so irrelevant.

Wenn es an Peinlichkeiten fehlen sollte, gibt es zum Ersatz Fakes.


Streiflichter aus dem Krieg in der Ukraine

 "Der belarussische Diktator Aljaksandr Lukaschenka erklärte anlässlich des Unabhängigkeitstages, dass er sich sicher sei, „dass die heutigen Widersprüche das jahrhundertelange Fundament guter nachbarschaftlicher Beziehungen [...] nicht zerstören können“. Belarus würde sich „auch weiterhin“ bemühen, „Eintracht und die Entwicklung freundschaftlicher, respektvoller Kontakte auf allen Ebenen“ zu wahren. Er wünschte den Ukrainern „einen friedlichen Himmel, Toleranz, Mut, Kraft und Erfolg bei der Wiederherstellung eines würdevollen Lebens“.[189] Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak kritisierte die Äußerungen scharf: „Lukaschenko glaubt ernsthaft, dass die Welt seine Beteiligung an den Verbrechen in der Ukraine nicht bemerke. Darum wünscht er uns zynisch einen ‚friedlichen Himmel‘, während er erlaubt, dass tödliche Raketen auf uns niedergehen.“[190]

Bei einem russischen Raketenangriff auf den Bahnhof des Ortes Tschaplyne in der Oblast Dnipropetrowsk sind nach ukrainischen Angaben mindestens 25 Menschen getötet und rund 31 verletzt worden. Das russische Verteidigungsministerium bestätigte den Angriff auf den Bahnhof, aber behauptete dagegen, dabei seien 200 ukrainische Reservisten getötet worden.[191] Eine Recherche von Spiegel-Journalisten vor Ort ergab, dass am Tag des Angriffs und dem Tag davor viele Soldaten im Ort gesehen wurden. Es sind außerdem zivile Anwohner unter den Opfern.[192] Nach ukrainischen Angaben wurden über Chmelnyzkyj drei russische Kalibr-Marschflugkörper abgefangen. In der Oblast Schytomyr habe es ebenfalls Beschuss gegeben.[189][188]

Den örtlichen Behörden zufolge starb der von Russland eingesetzte Statthalter der besetzten Stadt Mychajliwka bei einer Autobombenexplosion.[189]" (Wikipedia: Chronologie des russischen Überfalls auf die Ukraine, 24.8.22)

Mittwoch, 7. September 2022

Ein Moderator des russischen Staatsfernsehens hält einen „totalen Sieg“ im Ukraine-Krieg für unmöglich

" [...] In einem Beitrag der russischen Fernsehsendung Myesta Vstrechi (zu Deutsch: „Der Treffpunkt“) äußerte sich ein Moderator zu den Chancen, einen „totalen Sieg“ im Krieg gegen die Ukraine erringen zu können. Als die Diskussionsteilnehmer offen darüber sprachen, dass Moskau seine Gegner tötet und Terroranschläge verübt, merkte ein Moderator an, die westliche Hilfe würde einen totalen Sieg unmöglich machen. [...]"

FR 7.9.22

Wird es Insolvenzen geben?

  "Seine Ansprachen sind oft direkter als die seiner Kolleginnen und Kollegen. Manchmal nimmt sich der Grüne viel Zeit, um die komplexen Probleme, die er als Wirtschaftsminister lösen muss, darzulegen. Der Auftritt, den Habeck am Dienstagabend in der Talkshow »Maischberger« hinlegte, passt dagegen nicht ins Bild des wortgewandten Erklärers.

Auf die Frage, ob er am Ende des Winters mit einer Insolvenzwelle rechne, antwortet der Wirtschaftsminister noch eindeutig: »Nein, das tue ich nicht.« Doch bei der dann folgenden Erläuterung verhaspelte sich Habeck. »Ich kann mir vorstellen, dass bestimmte Branchen einfach erst mal aufhören zu produzieren. Nicht insolvent werden.« Moderatorin Sandra Maischberger will da bereits Zweifel anmelden, wie ein Produktionsstopp ohne Insolvenzen funktionieren solle, doch Habeck fährt schon mit seiner Erklärung fort.

Verwirrender Brötchen-Vergleich 

Er verweist auf Preisunterschiede bei Brötchen, die beim Discounter künftig wohl verhältnismäßiger noch günstiger sein dürften als in traditionellen Bäckereien. Auch andere kleinere und Einzelhandelsbetriebe mit vergleichsweise teureren Produkten könnten Probleme bekommen, »weil es eine Kaufzurückhaltung gibt«. Die Betriebe seien dann nicht automatisch insolvent, »aber sie hören vielleicht auf zu verkaufen«. Insolvent wären Betriebe laut Habeck erst, wenn »man mit der Arbeit immer größeres Minus macht«."

https://www.spiegel.de/politik/deutschland/robert-habeck-nach-aussagen-zu-moeglicher-insolvenzwelle-in-der-kritik-a-24d007ed-0e05-414f-bac3-b2831706fa65

Dienstag, 6. September 2022

Von den Gründen des Niedergangs der polynesischen Kultur

Einflüsse von außen auf Polynesien  (Wikipedia)

Königreich Tahiti (Wikipedia)

Geschichte Tahitis (Wikipedia)

Sieh auch den vorhergehenden Text Auch amerikanische Walfänger gehören zur Kulturgeschichte Europas  aus: John H. Parry: Europäische Kolonialreiche. Welthandel und Weltherrschaft im 18. Jahrhundert, Kindlers Kulturgeschichte Europas Band 16, Copyright Parry 1971, dtv 1983, S,508-10)

"Rum und Feuerwaffen verstärkten noch die Auflösungserscheinungen. Viele Einwohner Tahitis waren nach den Angaben von Blei bereits dem Alkohol verfallen. Cooks alter Freund Tu (Pomare I.) hatte von den Meuterer der Bounty eine Anzahl von Musketen erworben, und er war auf dem besten Weg, nunmehr das zu werden, wofür Cook ihn ursprünglich bereits gehalten hatte, nämlich Oberhäuptling eines Großteils dieser Insel. Sowohl Rum als auch Musketen waren wertvolle Handelsartikel, mit denen die Besatzungen der Walfangfänger für die benötigten Lebensmittelvorräte bezahlten. Die Macht eines Häuptlings wurde nach der Zahl der europäischen Waffen bemessen, die er besaß. Die Musketen verstärkten die zerstörenden Kräfte der zahlreichen Stammeskriege und führten zu einem rücksichtslosen Despotismus im Verhalten der Häuptlinge. Der Besitz solcher Feuerwaffen verlieh den Diensten jener Männer, die diese Waffen zu gebrauchen wussten und die sie auch – was im Grunde noch wichtiger war – reparieren konnten, eine ganz besondere Bedeutung.

Darauf beruhte auch die Bedeutung der so genannten "Strandläufer" (beachcombers) – Meuterer, Ausgesetzte, Deserteure von Walfangschiffen und entflohene Sträflinge aus Neusüdwales: diese Männer gliedern sich in die polynesischen Gesellschaft ein, sie akzeptierten die polynesischen Lebensweise, sie bauten die Ressentiments der Polynesier dadurch ab, dass sie anfangs völlig hilflos waren, und sie wurden später häufig zu Protégés der polynesischen Häuptlinge. Viele von ihnen hatten nur den einzigen Wunsch, in einer Art alkoholischen Dämmerzustand am Strand zu liegen und sich dort zu sonnen; aber es gab auch "Strandläufer", die als Händler, Söldner, Politiker und in einigen kleinen Orten sogar als örtliche Herrscher auftraten; indirekt trugen sie alle dazu bei, die Gesellschaft, die sie tolerierte, zu unterminieren.
Am anderen Ende der breiten Skala europäischer Eindringlinge standen die Missionare. Das 18. Jahrhundert war in keinem Teil Europas ein ausgesprochen religiöses Zeitalter. Der Versuch, mit großem Eifer die Eingeborenen zu Christen zu bekehren, fand daher weder in Regierungskreisen noch bei der Aristokratie – und nicht einmal bei den anerkannten Kirchengemeinschaften selbst – besondere Unterstützung. Weder die Kurie in Rom, noch irgendeiner der großen katholischen Orden, noch die wohl etablierten Missionsgesellschaften der anglikanischen Kirche machten sich sofort daran, das Evangelium in der Südsee zu verbreiten. Die London Missionary Society repräsentierte die Dissidenten der englischen Mittelklasse, die die Autorität der englischen Staatskirche nicht anerkannten; es handelte sich dabei um eine Gruppe, die – abgesehen von einigen halbherzigen Versuchen in Neuengland während des 17. Jahrhunderts – sich bisher niemals mit der Verkündigung Verkündung des Evangeliums außerhalb Europas befasst hatte. Unter den 39 Menschen die im Jahr 1797 mit der Duff in Tahiti eintrafen, befanden sich vier nonkonformistische Priester; die übrigen waren Handwerker, von denen einige auch ihre Frauen und Kinder mitgebracht hatten. Sie standen in schärfsten Gegensatz zu allen dort anwesenden Gruppen: zu den Polynesien; zu den vorübergehend dort anwesenden Walfängern und den raffgierigen "Strandläufern" aller Schattierungen; zu den sich zwar distanziert verhaltenden, dabei aber doch neugierigen Seeoffizieren aus der Cookschen Schule; schließlich auch dem vornehmen wissenschaftlichen Zirkel von Banks und seinen Freunden. Sie waren eine tapfere Gruppe, die keine Hilfe von Außenstehenden zu erwarten hatte, und daher ist ihr Erfolg bei der Verkündigung des Evangeliums umso bemerkenswerter. Er ist zumindest teilweise, zweifellos auf ihrer rückhaltlose Hingabe und auf ihre absolute Gewissheit zurückzuführen - hier gab es doch endlich etwas Sicheres und Vorhersagbares in einer aus den Fugen geratenen Welt; der Erfolg war aber andererseits auch darauf zurückzuführen, dass sie sich mit ihrer Umsicht und Ihrer Hartnäckigkeit die Unterstützung der führenden einheimischen Häuptlinge zu sichern wussten." (Seite 510-512)

Samstag, 3. September 2022

Auch amerikanische Walfänger gehören zur Kulturgeschichte Europas

"[...] Der britische Markt für Walfischtran begann bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts allmählich flauer zu werden, denn man verwendete in zunehmendem Maß Leuchtgas und Paraffin, die beide billiger waren; dagegen konnten sich die Walfänger von Neuengland eines ständig zunehmenden Binnenmarkts – in der Hauptsache in den ländlichen Gebieten – erfreuen. Bis zum Jahre 1820 hatten die Bewohner von Neuengland ihre alte Vorherrschaft wieder hergestellt; um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren mehr als drei Viertel der gesamten Walfangflotte der Welt in amerikanischen Händen, und die englischen Walfangschiffe waren fast ganz aus dem pazifischen Raum und aus den südlichen Breiten verschwunden.

Während nun die Britten damit begannen, Ostaustralien und Nordwestamerika – jedes auf eine begrenzte und ganz spezielle Art – zu besiedeln, war die Europäisierung der Inseln im pazifischen Ozean im späten 18. und im frühen 19. Jahrhundert in erster Linie das Werk der amerikanischen Walfänger und Händler. Diese Männer waren gewissermaßen das nautische Pendant zu jenen Pionieren, die den amerikanischen Westen besiedelten, und sie waren ebenso wie jene repräsentativ für die vermutlich wohl destruktivste Gesellschaft, die es auf der Welt jemals gegeben hat. Sie beuteten die Inseln wie völlig zügellose Privatunternehmen aus; es gab damals dort keine verantwortliche Regierung, die sie in irgendeiner Form zur Mäßigung gezwungen oder einer Kontrolle unterworfen hätte. Den Walen selbst war nicht sofort dasselbe Los beschieden wie den Seeottern; das blieb späteren Zeiten vorbehalten, in denen die Jäger in starkem Maß mit mechanischen Hilfsmitteln arbeiteten.

Auch die Polynesier erlitten nicht gleich das Schicksal der Mohawks, denn weder die Walfischjäger noch die Händler ließen sich für dauernd in ihrem Territorium nieder. Dass man jedoch diese wilden Horden von disziplinlosen Seeleuten auf die Inselbevölkerung losließ, erschütterte die fragilen Gesellschaftsstrukturen der Inselbewohner. In Tahiti hatte der Zerfall der polynesischen Lebensformen fast gleichzeitig mit dem Besuch der ersten Europäer auf dieser Insel begonnen. Sowohl Cook als auch Bougainville hatten diese Entwicklung vorausgesagt, und beide hatten auch die Faktoren richtig erkannt, die die Hauptschuld an dieser Entwicklung trugen: die bekannte Gruppe ansteckender Krankheit – einschließlich der Geschlechtskrankheiten –, die sich unter den isolierten Völkern, denen es an entsprechender Immunität mangelte, rasend schnell ausbreiteten; eine gefährliche Abhängigkeit von europäischen Werkzeugen und Gebrauchsgegenständen und eine sich daraus konsequent ergebende Vernachlässigung angeborene Kunstfertigkeiten, die bis zu deren völligem Verlust reichte; schließlich noch eine zunehmende Missachtung der traditionellen Disziplin und eine Gleichgültigkeit gegenüber den Sanktionen, mit deren Hilfe sie bisher aufrecht erhalten worden war. Diese Entwicklung wurde natürlich dadurch gefördert, dass sich im Inselbereich mächtige fremde Männer befanden, denen gegenüber diese Sanktionen wirkungslos waren.

Nach seinem zweiten Besuch auf Tahiti im Jahr 1792 berichtete Bligh, dass bereits Waldfangschiffe die Insel anliefen; die Herstellung von Steinäxten und von tapa – Kleidung aus Feigenbaumbast, deren Schönheit Cook so gerühmt hatte – war fast völlig eingestellt worden; viele Eingeborenen hatten ihre anmutige eigene Kleidung weggeworfen und dafür die abgelegten Kleidungsstücke der Seeleute angezogen, und selbst ihre Sprache hatte sich mit einer Art englischem Jargon durchsetzt. Sie waren schmutzig geworden, viele Inselbewohner infizierten sich mit Geschlechtskrankheiten, und diese Krankheiten breiteten sich mit rasender Eile weiter aus. (S. 508-510) (sieh auch: Fortsetzung S.510-512)

(John H. Parry: Europäische Kolonialreiche. Welthandel und Weltherrschaft im 18. Jahrhundert, Kindlers Kulturgeschichte Europas, Copyright Parry 1971, dtv 1983)


"[...] Der Walfang erreichte den Höhepunkt seiner internationalen Bedeutung etwa zwischen 1820 und 1860. [...] Neuentdeckungen von Walpopulationen lösten "Ölkämpfe" zwischen einzelnen Schiffen und ganzen nationalen Flotten aus, die an den Goldrausch in Kalifornien oder Australien erinnerten. [...] 1848 reiche Walfanggründe entdeckt, vor allem bevölkert von dem heute fast verschwundenen Grönlandwal, die wichtigste Entdeckung überhaupt im Walfang des 19.Jahrhunderts, denn keine Walart liefert durch ihre Barten besseres "Fischbein".  Sie führte zur ersten kommerziellen Präsenz der USA im maritimen Norden, [...] Das Interesse der USA an Alaska wäre ohne diese vorausgehende Entwicklung kaum denkbar. [...] 
Die 1870er Jahre waren eine allgemeine Krisenzeit für den amerikanischen Walfang. Die einstweilige Rettung kam von der Nachfrageseite durch das neue Schönheitsideal der Wespentaille und die dadurch gestiegenen Ansprüche an eine Korsett-Technik, die auf die feste Elastizität von Fischbeinstäbchen angewiesen war. Es lohnte sich jetzt, noch weiter auf dem Meer vorzudringen. [...]

Das einzige nicht-westliche Volk, das unabhängig von westlichen Einflüssen Walen nachstellte, waren die Japaner. [...]  Seit dem späten 17.Jahrhundert verwandte man statt des Harpunierens die Methode, Wale (die vor Japan zumeist zu kleineren und langsamer schwimmenden Arten gehören) von Booten aus in große Netze zu treiben. Die Verarbeitung der Wale, bei der nichts ungenutzt blieb, geschah nicht auf Schiffen (wie bei den US-whalers), sondern an Land. [...]

(Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S.556/57)

Das Erschreckende: Die Europäisierung Neuenglands (und der angehenden USA) hat zu der nach John H. Parry "vermutlich wohl destruktivste[n] Gesellschaft, die es auf der Welt jemals gegeben hat" (S.509) geführt. Parrys Urteil geht selbstverständlich vor allem auf den auf Völkermord hinauslaufenden Umgang mit der indigenen Bevölkerung Nordamerikas zurück, die er in anderem Zusammenhang behandelt.