XXIII.
Warum
sind denn die Rosen so blaß,
O sprich, mein Lieb, warum?
Warum
sind denn im grünen Gras
Die blauen Veilchen so stumm?
5
Warum
singt denn mit so kläglichem Laut
Die
Lerche in der Luft?
Warum steigt denn aus dem Balsamkraut
Hervor
ein Leichenduft?
Warum scheint
denn die Sonn’ auf die Au’
10
So
kalt und verdrießlich herab?
Warum
ist denn die Erde so grau
Und öde wie ein Grab?
Warum
bin ich selbst so krank und so trüb’,
Mein liebes Liebchen,
sprich?
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O
sprich, mein herzallerliebstes Lieb,
Warum
verließest du mich?
(Heinrich
Heine: Buch der Lieder)
Was
einen im Alter angreift: Müdigkeit, Schwäche, Schmerzen, ...
Das
gab es schon in der Jugend bei Verlusten. Unsere vierjährige Enkelin
Mia muss ihre Freundinnen und ihren sechsjährigen Freund verlassen,
weil ihre Eltern in die Großstadt Karlsruhe ziehen.
Unser
Sohn Martin verlor sein Schmusetier, als er es einmal in der Schule
mitnahm. Auf einem Schulbazar sahen wir Eltern es wieder und kauften
es zurück. Jetzt ist er 46 Jahre alt und hat es über 40 Jahre lang
wieder.
In
der Kindheit hat jeder Schmerz fast Ewigkeitswert, aber er ist zum
Glück meist bald vorbei.
Heine
hat diesen Trost, den wir den Jungen zu geben versucht sind, auch
gleich formuliert.
Das
Fräulein stand am Meere
Das
Fräulein stand am Meere
Und
seufzte lang und bang,
Es
rührte sie so sehre
Der
Sonnenuntergang.
Mein
Fräulein! sein Sie munter,
Das
ist ein altes Stück;
Hier
vorne geht sie unter
Und
kehrt von hinten zurück.
Als
Lied klang der "Trost" so:
Otto
Reutter (1870-1931)
In
fünfzig Jahren ist alles vorbei!
Denk
stets, wenn etwas dir nicht gefällt:
"Es
währt nichts ewig auf dieser Welt!"
Der
kleinste Ärger, die größte Qual
Sind
nicht von Dauer, sie enden mal!
Drum
sei dein Trost, was immer es sei:
"In
fünfzig Jahren ist alles vorbei!"
Und
ist alles teuer, dann murre nicht
Und
holt man die Steuer, dann knurre nicht
Und
nimmt man dir Alles, dann klage nicht
Und
kriegst du 'n Dalles, verzage nicht –
Nur
der, der nichts hat, ist glücklich und frei
Und
in fünfzig Jahren ist alles vorbei!
Und
geht zu 'nem Andern dein Mägdelein
Dann
schick' ihr noch's Reisegeld hinterdrein
Und
bist du traurig, denk in der Pein:
"Wie
traurig wird bald der Andere sein!"
Dem
macht sie's wie dir — die bleibt nicht treu
Und
in fünfzig Jahren ist alles vorbei!
Und
siehst du 'ne Zeitung, dann schau nicht hin
Es
steht ja doch bloß was Schlechtes drin!
Und
schafft dir die Politik Verdruss:
Es
kommt ja doch alles, wie's kommen muss!
Heut'
haben wir die, morgen jene Partei
Und
in fünfzig Jahren ist alles vorbei!
Und
stehst du nervös an 'nem Telefon
Und
du stehst und verstehst da nicht einen Ton
Oder
bist beim Zahnarzt – wenn er dich greift
Und
dich mit dem Zahn durch die Zimmer schleift
Und
er zieht und er zieht und bricht alles entzwei –
Äh,
in fünfzig Jahren ist alles vorbei!
Und
platzt dir ein Knopf – am Hemd zumeist –
Und
hast du ein Schuhband, das stets zerreißt
Und
hast'ne Zigarre du, die nicht zieht
Und
hast du ein Streichholz, das gar nicht glüht:
Nimm
noch 'ne Schachtel, nimm zwei oder drei –
Äh,
in fünfzig Jahren ist alles vorbei!
Und
fälscht man dir Schokolade und Tee
Und
verspricht man dir echten Bohnen-Kaffee
Und
du merkst, dass der Kaffee – wie schauderbar! –
Eine
bohnen-lose Gemeinheit war
Dann
schließ die Augen und sauf den Brei –
Äh,
in fünfzig Jahren ist alles vorbei!
Und
sitzt in der Bahn du ganz eingezwängt
Und
dir wird noch 'ne Frau auf'n Schoß gedrängt
Und
die hat noch 'ne Schachtel auf ihrem Schoß
Und
du wirst die beiden Schachteln nicht los
Und
die Füße werden dir schwer wie Blei –
Äh,
in fünfzig Jahren ist alles vorbei!
Und
bist du ein Eh'mann und kommst nach Haus
Halb
drei in der Nacht und se schimpft dich aus
Dann
schmeiß dich ins Bette und sag: "Verzeih!
Wär'
ich zu Hause geblieben, wär's ooch halb drei!"
Und
kehr ihr den Rücken und denk: „Nu schrei!
Äh,
in fünfzig Jahren ist alles vorbei!"
Und
fürchte dich nie, ist der Tod auch nah –
Je
mehr du ihn fürcht'st, um so eh'r ist er da!
Vorm
Tode sich fürchten, hat keinen Zweck –
Man
erlebt'n ja nicht, wenn er kommt, ist man weg!
Und
schließlich kommen wir all' an die Reih'
Und
in fünfzig Jahren ist alles vorbei!
Drum:
Hast
du noch Wein, dann trink ihn aus
Und
hast du ein Mädel, dann bring's nach Haus!
Und
freu dich hier unten beim Erdenlicht –
Wie's
unten ist, weißt du – wie oben nicht!
Nur
einmal blüht im Jahre der Mai
Und
in fünfzig Jahren ist alles vorbei –
Du
Rindvieh, dann isses vorbei!
Otto
Reutter entwickelte sich bald zu einem gefragten Sänger. Ab 1915,
im Ersten
Weltkrieg,
gab er im angemieteten Palasttheater am Zoo in Berlin sogenannte
Kriegsrevuen. Ab Ende 1916 sang er dann auch Lieder, in denen das
Geschehen und die allgemeine Meinung teilweise eher kritisch als
humorvoll dargestellt wurde. So erzählt das Lied Ich
möcht’ erwachen beim Sonnenschein eher
melancholisch, teilweise sogar sehr traurig über die allgemeine
Stimmung in der Nachkriegszeit. Reutter beklagte den Verlust seines
Sohnes Otto Reutter jun. (geb. 1896) in der Schlacht
um Verdun im
Mai 1916.
In
den 1920er Jahren trat Otto Reutter mit seinen Couplets vor
allem im Wintergarten auf.
Aus dieser Zeit sind einige Couplets wie In
fünfzig Jahren ist alles vorbei noch
heute bekannt. Kurt
Tucholsky beschrieb
im Januar 1921 einen Auftritt Reutters:[3]
Die
Pointen fallen ganz leise, wie Schnee bei Windstille an einem stillen
Winterabend. (...) Alles geht aus dem leichtesten Handgelenk, er
schwitzt nicht, er brüllt nicht, er haucht seine Spitzen in die
Luft, und alles liegt auf dem Bauch.