"Viren sind U-Boote des Wissens" (ZEIT 24.7.21)
"[...] Es gibt genügend Viren, die man sehr fürchten muss. Aber für mich als Wissenschaftler waren und sind Viren ein Weg zur Erkenntnis. Sie sind U-Boote des Wissens. Viren brauchen die Zellen zum Überleben, wer sie beobachtet, versteht, wie alles funktioniert. Über die Betrachtung der Viren kann man die komplizierten Zusammenhänge in einer Zelle begreifen. Ohne die Virusforschung wären die Fortschritte in der modernen Biologie nicht möglich gewesen. [...]
Als die neuen Verfahren entwickelt wurden, die Reihenfolge der Bausteine im Erbgut zu lesen, war die Lesegeschwindigkeit in den ersten Jahren naturgemäß noch gering. Es lag daher nahe, das Lesen zunächst an eher kleinen Genomen zu üben, also an Material, das nur aus wenigen Genen besteht. Und so wurden Viren und ihre Genome zu einem idealen Übungsobjekt. Kein Wunder also, dass virale Genome zu den ersten zählten, die vollständig gelesen und entziffert waren. Es gibt so viele Beispiele für die Bedeutung der Viren, etwa bei der Krebsforschung. Oder nehmen Sie das revolutionäre Crispr-Verfahren, die sogenannte Genschere, mit der man beschädigtes Genmaterial aus Genomen herausschneiden kann: Dabei spielt ein Bakterienvirus eine entscheidende Rolle. Man benutzt Viren, um Informationen in eine Zelle zu schleusen – eine grundlegende Methode, damit Gentechnik, also die gezielte Veränderung von Erbgut, überhaupt funktioniert.
ZEIT Wissen: Die Bedeutung der Viren für die Forschung haben wir verstanden. Wie würden Sie insgesamt die Beziehung zwischen Virus und dem Menschen beschreiben?
Winnacker: Viren und ihre Wirtszellen pflegen ein sehr vielfältiges und intimes Verhältnis. Wenn Sie wollen, können Sie das Wort Wirtszelle auch durch das Wort Mensch ersetzen. Man muss sich gegenseitig schon sehr gut kennen, um sich an den jeweiligen Partner anpassen zu können. Wer in dieser Auseinandersetzung die Oberhand behält, das Virus oder sein unfreiwilliger Wirt, muss immer wieder und in jedem Einzelfall neu getestet werden. In diesem ewigen Kampf wird mit allerlei Tricks gearbeitet, und leider geht man dabei auch im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen.
ZEIT Wissen: Sie haben die Gefährlichkeit von Viren wiederholt am eigenen Leib verspürt. Sie wären als Kind beinahe an einer verunreinigten Impfung gegen Pockenviren gestorben. Später mussten Sie die schwere Erkrankung Ihrer Frau miterleben.
Winnacker: Es war im Jahr 1968, ich war junger Wissenschaftler an der Universität von Kalifornien in Berkeley, und wir hatten gerade geheiratet. Es war um Weihnachten herum, eine Art Hochzeitsreise: Wir wollten die klassische Tour machen – Death Valley, Las Vegas, Naturschutzparks. Mitten in der Wüste fing meine Frau, sie war damals 24, furchtbar zu zittern an. Ich bin kein Arzt, sondern Biochemiker, aber ich wusste, das ist kein gutes Zeichen. Ich holte mir aus irgendeinem gottverlassenen Drugstore ein Fieberthermometer. Sie hatte hohes Fieber, wir rasten zurück nach Oakland. Sie hatte die Hongkong-Grippe, die damals in Kalifornien brutal grassierte: In vier Wochen starben 16.000 Menschen. Die Mitpatientinnen in ihrem Krankenhauszimmer sind alle an dieser Influenza gestorben. Meine Frau hat überlebt, aber ihre Lunge war geschädigt, sie hatte zeit ihres Lebens Probleme mit der Atmung. [...]
ZEIT Wissen: Es hat also vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie genügend Warnungen vor möglichen Pandemien gegeben.
Winnacker: Man kannte die Gefahr, natürlich. Als 2003 die erste Sars-Pandemie in China ausgebrochen war, baten chinesische Wissenschaftler um Unterstützung. Wir stellten eine Delegation zusammen und flogen in das gespenstische Peking, in dem zur Abriegelung an vielen Straßenecken Panzer standen. Zu der Delegation gehörte übrigens ein aufstrebender junger Forscher namens Christian Drosten. Er hatte wenige Wochen zuvor einen Test erfunden, der das Sars-Virus erkennbar machte. Hätte er daraus eine Start-up-Firma gemacht, wäre er heute mindestens Millionär. Er hat den Test einfach der Wissenschaft zur Verfügung gestellt. Ich halte bis heute außerordentlich viel von Christian Drosten.
ZEIT Wissen: Sie haben 2005 in einem Interview Alarm geschlagen: Deutschland müsse sich dringend vorbereiten auf mögliche Pandemien, man müsse schleunigst mit dieser Arbeit beginnen. Außerdem forderten Sie eine Ausweitung der Virenforschung, Sie beklagten eine "katastrophale Situation".
Winnacker: Leider ist es genau so gekommen. Die Corona-Pandemie hat Deutschland vollkommen unvorbereitet erwischt. Ich bin mir keinesfalls sicher, ob wenigstens jetzt die richtigen Schlüsse gezogen werden.
"Wir brauchen einen vielfältigen Ausbau der Forschung"
ZEIT Wissen: Wie meinen Sie das?
Winnacker: Ich hoffe, dass nicht wieder alles verdrängt wird, wenn Corona vorbei ist. Ich finde die Feuerwehr eine fabelhafte Einrichtung. Sie gibt es überall, meistens tut die Feuerwehr: "nichts". Aber wenn die Gefahr da ist, wenn es brennt, ist sie da. So etwas brauchen wir auch in Sachen Pandemie: Wir müssen vorbereitet sein. Dazu brauchen wir einen vielfältigen Ausbau der Forschung. Kennen Sie die "Kränkungen der Menschheit" von Sigmund Freud?
ZEIT Wissen: Erzählen Sie.
Winnacker: Freud sprach von drei großen Kränkungen: die Feststellung des Astronomen Kopernikus, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist; die Entdeckungen von Charles Darwin, wonach der Mensch vom Affen abstammt; sowie die psychologische Kränkung, die von Freud selbst formulierte Libidotheorie des Unbewussten, nach der sich Teile unseres Unbewussten der Herrschaft unseres Willens entziehen. Ich möchte dieser Liste jetzt die vierte Kränkung hinzufügen, die virologische: Ein Virus bringt die Welt durcheinander, und obwohl wir in einer Wissenschaftsgesellschaft leben, fällt es uns schwer, den Erreger unter Kontrolle zu halten. Ist die Pandemie vergleichbar mit der Kopernikanischen Wende? Ist sie derart fundamental, dass sie unser Menschenbild auf Dauer verändert? Ich glaube, ja.
[...]
"Die Habilitation ist bis heute in erster Linie ein Herrschaftsinstrument. Ausnahmen bestätigen die Regel. Junge Leute werden ausgenützt, in den schlimmsten Fällen werden sie wie geistige Sklaven gehalten. Die Habilitation dauert viel zu lange und schafft oft Abhängigkeiten, die einer freien Forschung entgegenstehen. Es gibt sie nicht in den USA, nicht in den angelsächsischen Ländern, nicht in Schweden, überall da werden die jungen Leute zur Selbstständigkeit erzogen. Bei uns ist es nicht so, weil zu viele von diesem System profitieren. Ich habe versucht, dieses System abzuschaffen, und bin damit gescheitert." [...] Ich würde mich als junger Forscher einem Thema widmen, das ich für das allerinteressanteste halte: dem Immunsystem. Ich bin inzwischen der Ansicht, dass das Immunsystem mindestens so komplex ist wie unser Gehirn. Das Immunsystem ist ein eigenes Organ, dessen Aufgabe darin besteht, unser Überleben zu sichern. Auf diesem Feld gibt es noch so viel zu erforschen. [...]
ZEIT Wissen: Sie haben Angela Merkel als Bundeskanzlerin erlebt. Hat man eigentlich gemerkt, dass mit ihr eine Wissenschaftlerin im Amt gewesen ist?
Winnacker: Ja, ich finde schon. Sie hat immer die richtigen Fragen gestellt. Sie ist eine außerordentlich kluge Frau.
ZEIT Wissen: Wie beurteilen Sie ihr Krisenmanagement während der Pandemie?
Winnacker: Ich fand sie in der ersten Phase der Pandemie sehr gut. Sie hat das Richtige gesagt und das Richtige getan. Später hatte ich irgendwann das Gefühl, sie ist irgendwie abgetaucht. Vielleicht hat sie resigniert, irgendwann in diesem Ministerpräsidenten-Strudel. Und es war sicher ein Fehler, und nicht nur ihr Fehler, die Anschaffung der Impfstoffe der europäischen Bürokratie zu überlassen. Das konnte nicht gut gehen, da reden zu viele mit. Diese Bürokratie ist nicht in der Lage, in einer außerordentlichen Situation außerordentliche Wege zu gehen. Dass dies schiefgeht, hätte man wissen müssen. Und das sage ich, obwohl ich ein glühender Anhänger der europäischen Idee bin.
ZEIT Wissen: Sie haben früher dafür plädiert, in der Politik eine Art Chief Scientist zu installieren. Immer noch eine gute Idee?
Winnacker: Ich finde schon. Er müsste im Kanzleramt angesiedelt sein, damit er eine gewisse Unabhängigkeit hat. Er müsste eine starke Stimme der Wissenschaft sein, direkt der Kanzlerin oder dem Kanzler unterstellt.
ZEIT Wissen: Herr Winnacker, sind Sie ein gläubiger Mensch?
Winnacker: Nicht in dem Sinne, dass ich die Beichte ablege. Aber der Glaube ist für mich schon ein wichtiges Instrument, mit den Widrigkeiten des Lebens einigermaßen fertigzuwerden. Ich habe große Hochachtung vor Leuten, die das mit Vernunft und Anstand leben. Ernst und Ludwig, meine Vornamen, haben eine Bedeutung, es waren die Vornamen von Familienmitgliedern – und sie waren beide Pfarrer. Ludwig hieß der Vater meiner Mutter.
ZEIT Wissen: Der Evolutions-Mathematiker Martin Nowak hat uns mal erzählt, dass er die interessantesten Gespräche über die Wissenschaft mit Kirchenleuten geführt hat. Haben Sie auch solche Erfahrungen gemacht?
Winnacker: Ja, zum Beispiel mit Kardinal Joseph Ratzinger, der später Papst Benedikt wurde. Ich habe ihn auch als Papst einmal noch getroffen, aber das interessanteste Gespräch hatte ich mit ihm bei der Einweihung der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt, damals war er noch Chef der Glaubenskongregation ... [...]Als wir uns verabschiedeten, sagte er, Herr Winnacker, vielen Dank, dass Sie mich auf den letzten Stand der Molekularbiologie gebracht haben, aber eines muss ich Ihnen schon noch dazu sagen: Vor 400 Jahren hätten wir Sie verbrannt. Er sagte dies mit einem besonderen, ihm eigenen Lächeln. [...]"
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