Polen - das heißt nirgendwo von Artur Becker, FR 24.9.21
"Ein bekannter Lektor eines großen und traditionsreichen Verlags aus Deutschland schrieb mir neulich, er habe mein Romanmanuskript „Ein roter Ziegelstein für Izabela“ mit Vergnügen gelesen, der Deutsche interessiere sich aber nicht für Polen und seine Kindheits- und Jugendgeschichten, das Buch werde kein breites Lesepublikum finden. In seiner Ehrlichkeit ein wunderbar durchsichtiges Urteil – und ich musste staunen, habe ich doch schon viele Romane in den letzten 25 Jahren veröffentlicht, deren Handlung in Polen verankert ist, und solche wie „Wodka und Messer“ oder „Drang nach Osten“ sind ja außerdem nicht unbekannt. [...] vor allen Dingen musste ich, nachdem ich die Antwort des Lektors gelesen hatte, an Alfred Jarrys den Dadaismus und das Theater des Absurden und Grotesken vorwegnehmendes Stück „König Ubu“ denken, das 1896 in Paris uraufgeführt wurde. [...] Jarry soll einmal über sein groteskes Drama gesagt haben, es spiele in Polen, also nirgendwo ...International berühmt geworden ist „König Ubu“ erst nach seiner Publikation 1922, lange nach dem Tod des Exzentrikers und Poète maudit im Jahre 1907, dem die Pariser Literaturkritik konsequent aus dem Weg gegangen war.
Es wurde aber in viele Sprachen übersetzt. Das literarische Multitalent Tadeusz Boy-Zelenski übersetzte „König Ubu“ 1936 ins Polnische, und der Spruch „Polen – das heißt nirgendwo“ wurde schnell zu einem kulturgeschichtlich-idiomatischen Ausdruck, der stark an jene „konzeptuellen Metaphern“ erinnert, die es vermögen, mehrere komplizierte geschichtliche, soziologische und kulturgeschichtliche – auch idiosynkratische – Phänomene bildhaft und in wenigen Worten als ein geschlossenes Ganzes, wie aus einem Guss, zusammenzufassen. [...]"
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