Menschen brauchen keine Religion und keine Gesetze – „Sie sehen selbst, was gut ist“
FR 8.7.2021
"Vor 300 Jahren: Christian Wolff zeigt in seiner China-Rede auf, dass Menschen weder Religion noch sonstige „Oberherrn“ brauchen, um moralisch richtig zu handeln. Heiner Roetz über eine der seltenen Sternstunden einer zukunftsweisenden kosmopolitischen Philosophie.
Wenn in der Philosophie ein Datum zu begehen ist, dann handelt es sich in der Regel um den Geburts- oder Todestag eines ihrer großen Vertreter. Selten nur geht es um Ereignisse anderer Art. Zu diesen ist zweifellos die Rede Christian Wolffs (1679–1754), des Prorektors der Universität Halle, vom 12. Juli 1721, anlässlich der Amtsübergabe an seinen Nachfolger Lange zu zählen. Wolff wählte ein Thema, das einem schwelenden Streit zwischen ihm und den Hallenser Pietisten ein neues Kapitel hinzufügte: Er sprach über die „philosophia practica“ der Chinesen.
Wolff suchte gegen den „Eifer der Lutheraner und Catholicken“ nach einer Philosophie, die die Wahrheit des Glaubens auf Rationalität zurückführt, was ihn in einen Konflikt mit auf der Unergründlichkeit der Offenbarung beharrenden Theologen bringen musste. Im pietistischen Halle war er in der Höhle des Löwen, und seine Gegner, denen er die Studenten abspenstig machte, sannen darauf, sich des lästigen und gefährlichen Konkurrenten zu entledigen. Die China-Rede brachte dann das Fass zum Überlaufen. Was Wolff vorzutragen hatte, so der Zeitzeuge Gottsched, wirkte wie „Feuerfunken, die in einen fertigen Zunder fielen“. Die Rede „machete das größte Lärmen, das zu unsern Zeiten irgend eine andere gemachet haben kann“.
Was hatte Wolff gesagt, das landesweit für Empörung sorgte? Er hatte die Ethik des Konfuzius als Beleg zitiert, dass Moral ohne Religion möglich sei und dies als Bestätigung seiner eigenen Philosophie präsentiert, hatte sich also gegen die herrschende Theologie mit einer heidnischen Lehre verbündet.* [...]
Für Wolffs Gegner war das Maß voll, und sie erwirkten beim preußischen König, dass er „beyh Hängen“ das Land binnen 48 Stunden zu verlassen hatte. Er fand Aufnahme an der Universität Marburg. Überall traten nun seine Widersacher auf. Aber auch seine Anhänger schliefen nicht, so dass sich die Stimmung schließlich drehte. Wolff konnte 1740 die Arbeit in Halle wieder aufnehmen. Die 1737 in Berlin gegründete „Gesellschaft der Wahrheitsliebenden“ (Societas Aletophilorum) ließ zu seiner Rehabilitierung eine Münze schlagen, die Minerva zeigt, auf dem Helm ein Januskopf mit den Gesichtern von Leibniz und Wolff, und die Aufschrift „sapere aude“, „erkühne dich, vernünftig zu sein“. Wolff war zu einer Ikone der Aufklärung geworden. [...]" (zur Fortsetzung)
* "Wolff studierte die chinesischen Klassiker in der Übersetzung von Noël bis zu seinem Tod im Jahr 1754. Sein ganzes Werk ist durchdrungen von Zitaten und Anspielungen auf diese Lektüre, die als Zeugnis der fruchtbarsten Begegnung zwischen westlicher und chinesischer Philosophie gelten kann." (Wikipedia)
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