Mittwoch, 8. Dezember 2021

Zum Antisemitismusbegriff

 Julia Bernstein Israelbezogener Antisemitismus: Erkennen – Handeln – Vorbeugen“ 2021

Leseprobe aus Bernstein, Israelbezogener Antisemitismus. Erkennen – Handeln – Vorbeugen, ISBN 978-3-7799-6359-2 © 2021 Beltz Juventa in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel 

"Wenn es in Deutschland um Israel geht, lässt sich mitunter etwas höchst Seltenes und deshalb Verdächtiges beobachten: Menschen unterschiedlichen Bildungsstandes, unterschiedlicher Gruppenzugehörigkeiten oder politischer Überzeugungen zeigen sich einig darin, dem jüdischen Staat „kritisch“ zugewandt zu sein. Ob Deutsche oder Nichtdeutsche, muslimisch, nichtreligiös oder christlich, von der Universität und dem Bildungsbürgertum zum Stammtisch oder von „Links“ über die „Mitte der Gesellschaft“ hin zum Rechtsextremismus: häufig finden die unterschiedlichsten Menschen über eine ablehnende Haltung zum jüdischen Staat zusammen. 

„Es ist so schrecklich, was da unten los ist, was die Israelis jetzt in Palästina machen.“ Eine solche Aussage ist deshalb immer wieder aus allen Ecken zu hören, auf jeden Fall dann, wenn man als Jude in Deutschland auf diesen „Missstand“ angesprochen wird (Zick et al. 2017a, S. 69 ff.; Bernstein 2020, S. 84 ff.). Sie kommt scheinbar ganz unverfänglich als Meinungsäußerung über Israel oder den Nahostkonflikt daher und geht deshalb vielen Menschen leicht über die Lippen. Nicht nur das, mit solchen Aussagen machen Menschen ihrem Ärger Luft: Es gehe ja gar nicht um Juden, mit der deutschen Geschichte, dem Nationalsozialismus und dem Holocaust habe das doch nichts zu tun. Kritik an Israel zu äußern, ja das müsse immer möglich sein, und überhaupt, die Israelis machen ja nicht alles richtig, sind auch nicht besser und den Mund lasse man sich schon gar nicht verbieten. Das lässt schon ersichtlich werden: Die „Israelkritik“ ist der zeitgemäße Ausdruck des Antisemitismus, mit ihr wird heutzutage die Judenfeindschaft legitimiert. Denn nach dem Holocaust ist der Antisemitismus sozial geächtet worden, angesichts des nationalsozialistischen Antisemitismus und der Ermordung von sechs Millionen Juden ist es verpönt, sich zur Judenfeindschaft zu bekennen, oder schlicht undenkbar, das negative Gefühl Juden gegenüber überhaupt einzugestehen, obwohl das Bild von den Juden sich nach dem Holocaust nicht verändert hat. Ein „Israelkritiker“ zu sein, steht den Menschen besser zu Gesicht als ein Antisemit zu sein. Die alten Feindbilder über Juden werden aber einfach auf Israel übertragen, das negative Gefühl den Juden gegenüber übersetzt sich in eine Meinung über Israel, die dann im Zweifel als „Kritik“ rationalisiert wird. So hat der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt in einem Essay schon früh festgestellt (1980, S. 93): „Kein Mensch ist heute mehr Antisemit, man versteht nur die Araber.“ 

Der Antisemitismus hat nach dem Holocaust also mit dem Israelbezug eine Form angenommen, die die soziale Ächtung der Judenfeindschaft in Deutschland nach dem Holocaust unterläuft. Manche Menschen stellen sich voller Überzeugung und Engagement gegen den Antisemitismus, wie er in seiner rassistischen Variante die Vergangenheit geprägt hat, sie tragen dann also mitunter seine Ächtung vor sich her, und verfestigen ihn gleichzeitig über die „Israelkritik“ in der Gegenwart. 

Diese Janusköpfigkeit der Deutschen prägt den Antisemitismus der Gegenwart: Zum einen gerieren sich Menschen vor dem Hintergrund oder gar wegen der nationalsozialistischen Geschichte und des Holocausts als geläutert und beschwören die Verpflichtung zur Ächtung des Antisemitismus immer wieder in Sprechblasen wie „Wehret den Anfängen“ verpackt herauf, zum anderen weisen Umfragen aus, dass sich der israelbezogene Antisemitismus in den Einstellungen von vierzig Prozent der Bevölkerung zeigt (vgl. Zick et al. 2017b, S. 27).

Denn nach dem Holocaust ist der Antisemitismus sozial geächtet worden, angesichts des nationalsozialistischen Antisemitismus und der Ermordung von sechs Millionen Juden ist es verpönt, sich zur Judenfeindschaft zu bekennen, oder schlicht undenkbar, das negative Gefühl Juden gegenüber überhaupt einzugestehen, obwohl das Bild von den Juden sich nach dem Holocaust nicht verändert hat. Ein „Israelkritiker“ zu sein, steht den Menschen besser zu Gesicht als ein Antisemit zu sein. Die alten Feindbilder über Juden werden aber einfach auf Israel übertragen, das negative Gefühl den Juden gegenüber übersetzt sich in eine Meinung über Israel, die dann im Zweifel als „Kritik“ rationalisiert wird. So hat der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt in einem Essay schon früh festgestellt (1980, S. 93): „Kein Mensch ist heute mehr Antisemit, man versteht nur die Araber.“ [...]"

Gert Krell/Michael Brumlik: Dämonisierung, Delegitimisierung und Doppelstandards FR 8.12.21, S.22/23

"[...] Antisemitisch, antizionistisch, antiisraelisch oder israelkritisch sind Begriffe für sehr verschiedene Einstellungen; alle vier können in Kombinationen auftreten, aber auch für sich stehen. Es gibt auch proisraelische Antisemiten; und es gibt Menschen, die Israel sehr gewogen sind, zugleich aber auch kritisch gegenüberstehen – nicht weil sie Antisemiten wären, sondern aus Sorge um seine Zukunft.
Julia Bernsteins Mischung aus Kampf gegen Antisemitismus mit Kampf gegen Kritik an der Besatzung und an der großisraelischen Politik der israelischen Rechtsparteien führt bei ihr zu einer maßlosen Überziehung des Antisemitismusvorwurfs. Damit aber schadet sie dem Kampf gegen den real existierenden Antisemitismus; auch und gerade in der politischen Bildung. Lehrer:innen dürfen durchaus ihre eigene politische Meinung zu kontroversen Sachverhalten in ihre Klassen einbringen; aggressive Werbung für die eigene Position, vor allem, wenn sie auf einem Pol einer breiten Debatte angesiedelt ist, ist jedoch nicht zulässig. Auf jeden Fall aber müssten auch andere Positionen zur Sprache kommen. Das hieße für den Nahostkonflikt, auch die innerisraelischen, innerjüdischen oder die allgemeinen wissenschaftlichen Kontroversen (auch über den Antisemitismus-Begriff!) wenigstens anzudeuten [...]
Das größte pädagogische Versäumnis der Autorin aber liegt darin, dass sie Lehrer:innen und Schüler:innen keine Perspektive anbietet. Ein Konflikt, in dem die eine Seite die andere vernichten will und die andere sich nur verteidigt, hat ja auch keine Perspektive außer der militärischen Selbstbehauptung. Wie sollen denn Schüler:innen und Jugendliche mit jüdischen oder arabischem bzw. muslimischem Hintergrund auf Julia Bernsteins Diagnose reagieren? [...]"

Dabei besonders wichtig erscheint mir der Beitrag von Stephan Hebel. Im Anschluss darauf gehe ich dort darauf ein, dass selbst Hebels klare Differenzierung bei kürzeren Äußerungen ausreicht, Israelkritik und Antisemitismus eindeutig zu unterscheiden. Für eine solche Unterscheidung ist immer eine Betrachtung des Kontextes nötig, sowohl des Argumentationskontextes wie des Handlungskontextes. 

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