Sonntag, 25. Oktober 2020

Armut und Lebensstandard

 Armut

"Die entscheidende Minimalmarkierung für Wohlstand war [...] die kontinuierliche Beschäftigung von Hauspersonal, auch in einer gemieteten Wohnung. Von dort war es noch ein weiter Weg über shabby gentility bis zu ausgesprochener Armut."(S.330)
"Im subsaharischen Afrika war der Besitz von Land ein weit weniger wichtiges Kriterium als die Kontrolle über Abhängige. Viele Herrscher im vorkolonialen Afrika besaßen kaum mehr lagerbare Schätze als ihre Untertanen. Sie hoben sich durch die Zahl ihrer Frauen, ihrer Sklaven, ihres Viehs und durch die Größe ihrer Getreidespeicher hervor. [...] Ein Armer war in Afrika jemand, der sich in einer besonders verletztlichen Lebenslage befand und der geringen oder gar keinen Zugang zur Arbeitskraft anderer hatte. Am Boden der Gesellschaft fanden sich diejenigen, die unverheiratet, kinderlos und vielleicht sogar noch wegen körperlicher Behinderung arbeitsunfähig waren. Selbst wenn sie oft besser ernährt waren als jene, um die sich niemand kümmerte, gehörten auch Sklaven zweifellos zur Schicht der Ärmsten." (S.331)
"Im südlichen Afrika begann Armut schon vor dem Ersten Weltkrieg eine Form anzunehmen, wie sie aus den dicht besiedelten Gesellschaften Europas und Asiens bekannt ist: Landlosigkeit mehr als physische Behinderung des Einzelnen wurde zur Hauptquelle von materieller Depravation. Staatlich unterstützte Landaneignung durch Siedler war eine typische Ursache dieser Art von Armut." (S.332)
"Profile von Einkommen und Lebensstandard [kann man] überhaupt nur im städtischen Raum erheben."  (S.332)
Die Zahl arbeitsfähiger Männer in britischen Arbeitshäusern ist ein guter Indikator für das Ausmaß extremer städtischer Armut. Diese Zahlen gingen zwischen 1860 und dem Ersten Weltkrieg nicht signifikant zurück. [...] Es ist unmöglich, für das 19. Jahrhundert Armut weltweit zu quantifizieren. (S.333)

Bettelei und Mildtätigkeit
"Die Tatsache, dass in Deutschland und einigen anderen Ländern Europas gegen Ende des 19. Jahrhunderts allmählich ein Wohlfahrtsstaat aufgebaut wurde, sollte nicht davon ablenken, dass dies in vielen Teilen der Welt auch eine Epoche fortgesetzter und neu motivierter philanthropischer Bemühungen um die Armen war." (S.333)
"In Ägypten setzte sich eine alte Tradition von Generosität und Almosenspendung fort. Diese Generosität hatte nach den Geboten des Islam nicht ostentativ in der Öffentlichkeit, sondern diskret ausgeübt zu werden." (S.334) "Ägypten unterschied sich freilich in
mehrfacher Hinsicht vom nördlichen Europa: [...] Die Armen verschwanden nie aus der Öffentlichkeit, sondern machten ihre Ansprüche geltend, anders als etwa die städtischen Unterschichten Englands, bei denen seit den 1860er Jahren die Entgegennahme von Armenfürsorge und erst recht Bettelei als peinlich und entwürdigend galten. Bettelfreiheit ist ein historisch ganz seltener Zustand, und er wurde vermutlich vor dem 20. Jahrhundert fast niemals erreicht.(S.334) 

Globalisierter Konsum
"Die umfassendste interkontinentale Wechselwirkung von Ernährungspraktiken war bereits im 16. Jahrhundert erfolgt. Dieser Columbian Exchange hatte europäische Nutzpflanzen und Tiere in der Neuen Welt eingeführt und amerikanische Pflanzen nach Asien und Europa gebracht. [...] Die Kartoffel brauchte seit der Ankunft der ersten Knollen kurz vor 1600 etwa zweihundert Jahre, bis sie in Ländern wie Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien zum wichtigsten Grundnahrungsmittel wurde. Schon viel früher hatte die
Einführung ertragreicherer Reissorten die Produktion in Südostasien und China erheblich gesteigert.(S.335)
"Die amerikanische Maniok-Wurzel wurde in Afrika heimisch gemacht, [...]. Heute ist Maniok in den tropischen Teilen Afrikas die am weitesten verbreitete Nahrungspflanze." (S.336)
Kulinarische Mobilität
"Seit dem Goldrausch der Jahrhundertmitte waren Italiener in Kalifornien ansässig. Bald immigrierten sie in / viele andere Teile der USA. Sie brachten den Durum-Weizen mit, den
man für italienische Pasta benötigt." (S.336/37) 
"In keinem europäischen Land spielten aus Übersee importierte Nahrungs- und Genussmittel eine größere Rolle als in Großbritannien. Die East India Company hatte, vor [...] die Briten zu einer Nation von Teetrinkern erzogen. [...] Der einzige andere exotische Import, der über den engen Kreis des Luxuskonsums hinaus die Ernährung der breiten Bevölkerung veränderte, war der Zucker. [...] Der eigentliche Aufstieg des Zuckerkonsums fand aber erst im 19. Jahrhundert statt. Die Zuckerproduktion auf der Welt verdoppelte sich zwischen 1880 und 1900 und nochmals von da an bis 1914. Der Anteil von Zucker an der durchschnittlichen Kalorienversorgung der Briten soll im Laufe des Jahrhunderts von 2 Prozent auf 14 Prozent gestiegen sein." (S.338)
"Es war eine der großen Tendenzen des 19. Jahrhunderts auf dem Ernährungssektor, dass die Industrialisierung auch die Herstellung von Fleisch erfasste und den Fleischmarkt
zu einem transkontinentalen Geschäft machte. [...] Spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nahm in Westeuropa der Fleischkonsum auch der Unterschichten deutlich zu. Zwischen den 1860er und den 1890er Jahren verdoppelte sich der Fleischverbrauch englischer Arbeiterfamilien auf mehr als ein Pfund pro Kopf in der Woche. Die Japaner [...]  bekehrten sich von vegetarischer Ernährung zum Verzehr von Fleisch. [...] 1876 wurde erstmals argentinisches Rindfleisch per Kühlschiff nach Europa gebracht." (S.339)
"Romantische Sozialtypen wie der nordamerikanische Cowboy und der argentinische Gaucho waren das mobile Proletariat einer weltweit operierenden Fleischindustrie. [...]
1905 wurden 17 Millionen Tiere getötet. Es ist kein Zufall, dass eine der schärfsten literarischen Attacken auf den amerikanischen Kapitalismus, Upton Sinclairs Roman The Jungle (1906), seinen Schauplatz in den Chicagoer Schlachthöfen hat [...]." (S.340)

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