Dienstag, 24. Dezember 2019

Wie US-Soldaten, die CIA und Boko Haram die Bekämpfung von Polio behinderten

"[...] Das größte Problem der Polio-Bekämpfung war kein technisches, sondern ein menschliches. Viele nigerianische Eltern wollten den Helfern nicht ihre Kinder anvertrauen. Insbesondere nach dem Einmarsch der USA in den Irak 2003 war das Vertrauen in westliche Organisationen unter Muslimen weltweit drastisch gesunken. Im muslimisch geprägten Norden Nigerias machte im selben Jahr das Gerücht die Runde, die Schluckimpfung mache Mädchen unfruchtbar, sei Teil einer vom Westen und von der Regierung in Lagos gesteuerten Kampagne, um Muslime zu sterilisieren. Fünf Bundesstaaten in Nordnigeria boykottierten die Impfkampagne komplett.
Zwischen 2002 und 2006 versechsfachte sich die Zahl der dokumentierten Poliofälle im Land. Und auch nachdem die Bundesstaaten den offiziellen Boykott aufgegeben hatten, hielt sich das Misstrauen vor den Tropfen aus dem Westen in vielen Teilen des Landes – auch, weil es in seltenen Fällen zu Infektionen durch den Impfstoff selbst kam.

Und auch sonst bekamen die Ängste immer wieder neues Futter. Im Jahr 2010 etwa verspielte die CIA das Vertrauen von Menschen weltweit, als sie eine falsche Impfkampagne als Deckmantel nutzte, um heimlich DNA von Zivilisten für die Jagd auf Osama bin Laden zu sammeln.
In Nigeria begann etwa zur selben Zeit der Aufstieg von Boko Haram. Jahrelang herrschten im Norden des Landes bürgerkriegsähnliche Zustände. Ganze Landstriche waren für das Impfpersonal unzugänglich. Der größte Rückschlag kam 2013, als Islamisten neun Impfhelferinnen im Bundesstaat Kano ermordeten.
Dass Nigeria trotz aller Widrigkeiten Polio besiegt hat, wäre wohl nie möglich gewesen, wenn die GPEI nicht eine wichtige Lektion gelernt hätte: Ohne Rückhalt in der lokalen Bevölkerung geht es nicht. Statt in ländlichen Communities unangekündigt mit auswärtigem Personal aufzutauchen, suchte man zunächst das Gespräch mit lokalen religiösen Führern, versuchte sie zu überzeugen – zum Teil, in dem Helfer selbst die Tropfen schluckten. Aber auch Polio-Überlebende beteiligten sich an der Überzeugungsarbeit – mit Erfolg: Viele einflussreiche Führer im Norden überwanden ihre Skepsis, einige wurden sogar zu glühenden Verfechtern des Anti-Polio-Kampfes.
Der streng hierarchisch organisierten GPEI steht in Nigeria heute eine breit aufgestellte Basisbewegung gegenüber. Und im Gegensatz zu einem Großteil der internationalen Gelder werden die lokalen Kräfte und ihr Know-how nach dem Ende von Polio nicht aus dem Land verschwinden. [...]" (Alicia Lindhoff: Lektion gelernt, FR 24.12.19)

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