Montag, 9. April 2018

Über die Situation der Juden im zaristischen Russland

Ilja Ehrenburg berichtet über Juden im zaristischen Russland:
Ein kleiner Junge fragte seine Eltern, "was ein Jude sei. "Ich bin Jude", erwiderte der Vater, "Mama ist Jüdin". Das kam derart unerwartet, daß der kleine kleine ungläubig ausrief: "Was, ihr seid Juden?" 
Wir waren besser vorbereitet. Mit acht Jahren wusste ich genau, daß es für die Juden ein Gebiet der Seßhaftigkeit, eine Aufenthaltsgenehmigung, eine Prozentnorm und Pogrome gibt." (Kindheiten, hg. U. Voß 1982, dtv 1459, S.181/82)

Josef Kastein: Eine Geschichte der Juden - Kapitel 41 , 1931

"[...] Es liegt im Rahmen der Methode, daß alles Erdenkliche geschieht, um die soziale Not der Juden zu steigern. Nach den ersten Pogromen und als Konsequenz der offiziellen Erklärung, daß die Juden das russische Volk ausbeuteten, läßt Alexander III. durch eine besondere Kommission untersuchen, »inwiefern die wirtschaftliche Tätigkeit der Juden eine schädliche Einwirkung auf die Lebensverhältnisse der Urbevölkerung hat«. [...]

Von 1889–1895 werden jüdische Advokaten durch die Handhabung der Verwaltung nicht mehr zur Ausübung ihrer Praxis zugelassen. Auch die Bildungsmöglichkeit der Juden wird unterbunden durch die Einführung der sogenannten Prozentnorm für die Mittel- und Hochschulen. Darnach dürfen die Juden in den Rayons nur 10 Prozent, außerhalb der Rayons nur 5 Prozent und in Petersburg und Moskau nur 3 Prozent der christlichen Schülerschaft darstellen. Unter Nikolaus II. werden diese Prozentsätze noch weiter heruntergesetzt. Er führt auch als eine direkte Aktion gegen die Juden das staatliche Branntweinmonopol ein und beraubt dadurch 250 000 Juden ihrer Existenz. Insgesamt verfügte Rußland gegen das Ende der zaristischen Regierung über einen Kodex von 650 Ausnahmegesetzen gegen die Juden. [...]"

Josef Kastein: Eine Geschichte der Juden - Epilog, 1931

"[...] Das Leben kennt nur bewegliche Ziele. Aber das Wissen um den Ausgangspunkt, um den organisch gewachsenen Grund, um den Wurzelgrund der Seele ist in unseren Tagen schon wieder lebendig geworden. Wir nennen es, wenn wir historisch sehen, Nation. Man kann ihm jeden anderen Namen geben, wenn er nur die Lebensgesetze dieser Gemeinschaft nicht verneint, ihr Biologisches und ihr Utopisches, ihr Soziologisches und ihr Religiöses, ihre historische Objektivität und ihre messianische Schöpferkraft. Das sind Weltkräfte, die zwar überall enthalten sind, die aber im Judentum eine Zusammenraffung erfahren haben, die durch alles Versagen hindurch eines Tages Wirklichkeit werden möchten. Es gibt etwas, das man das Fluidum der Weltgeistigkeit nennen kann. In diesem Fluidum wird alles Widerstrebende sich eines Tages auflösen müssen.
So stehen wir also da: vielfach entartet und vielfach bemüht, vielfach geschwächt und vielfach vom übermäßigen Willen gespannt, vielfach befeindet und vielfach hoffend; mit unendlicher Vergangenheit, mit geringer Gegenwart und mit einer Zukunft, die nur in der Gestaltungskraft jüdischer Herzen eine Wirklichkeit hat. So vom Wunderbaren und vom Grauenhaften, so vom Notwendigen und Zufälligen, so vom Ewigen und vom Zeitlichen ist diese Geschichte eines Volkes erfüllt, daß man ihr nicht nahen kann, ohne über alles Dogma der Religion hinweg im tiefsten Sinne gläubig zu werden.
So helfe Gott uns weiter."

Zum Antisemitismus:
"[...] man darf sich durch die Tatsache, daß der Begriff »Antisemitismus« eine Formulierung ziemlich jungen Datums ist, nicht an der Erkenntnis hindern lassen, daß es sich dabei eben nur um ein neues Wort für eine alte Sache handelt. In diesem neuen Wort ist im Verhältnis des Nichtjuden zum Juden nur das rassenmäßige Moment, die Differenz zwischen dem Semiten und dem Nichtsemiten betont. Das ist alles. In seinem Kern, in dem antijüdischen Gefühl, ist der Antisemitismus stets vorhanden gewesen von der Zeit an, in der das Judentum mit anderen Welten in mehr als nachbarlicher Feindschaft zusammenstieß."
Josef KasteinEine Geschichte der Juden - Kapitel 41 , 1931

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