Montag, 2. April 2018

Osterhammel zu Siedlungskolonialismus


Frontiers können beides sein: Orte der Vernichtung und Orte der Neubildung. Destruktion und Konstruktion sind oft dialektisch miteinander verschränkt. Joseph Alois Schumpeter nannte das in einem anderen Zusammenhang "schöpferische Zerstörung". Im 19. Jahrhundert wurden an Frontiers ganze Völker dezimiert oder zumindest ins Elend gestürzt. Gleichzeitig entstanden dort die ersten demokratischen Verfassungsstaaten. Frontiers können also ebenso Schauplätze archaischer Gewalttätigkeit wie Geburtszonen politischer und gesellschaftlicher Modernität sein. 
Auch im 20. Jahrhundert gab es noch Frontiers; an ihnen setzten sich zuweilen Prozesse aus dem 19. Jahrhundert heraus fort. Aber es scheint, als hätten Frontiers ihre Doppelsinnigkeit verloren. Konstruktive Entwicklungen wurden selten, Frontiers wandelten sich zu peripheren Zonen straff gelenkter Imperien, die sich von dem inneren Pluralismus des British Empire deutlich unterschieden. 

Neu waren nach dem Ersten Weltkrieg eine gesteigerte Ideologisierung und Verstaatlichung von Neulanderschließung durch bäuerliche Siedler. [...]

Hitler, der Leser und Bewunderer Kar! Mays, zog unmittelbare Parallelen zwischen dem Wilden Westen Old Shatterhands und dem Wilden Osten, den er selbst Anfang der 1940er Jahre zu schaffen begann. [...]  Die deutsche "Blut und Boden"-Ideologie, in der ethnische Säuberungen größten Stils und Massenmord vorgedacht wurden, verkörpert die Extremform dieses Denkens. Die Siedler waren nicht selbst als Exekutoren solch extremer Ziele vorgesehen, doch dienten sie in jedem dieser Fälle als Instrumente staatlicher Politik.[...] Die Siedler der faschistischen Imperialträume - ob in Afrika, der Mandschurei oder an der Volga - waren Versuchskaninchen einer staatlich gelenkten Volkstumspolitik. Ihnen fehlten die Hauptmerkmale Turnerscher Pioniere: Freiheit und self-reliance. [...]

Siedlungskolonialismus: die erstarrte Frontier

Nicht jede Form von Grenzexpansion durch nicht-staatliche Akteure führt zum dauerhaften Voranschieben einer erkennbaren Scheidelinie zwischen Wirtschafts- und Lebensformen. Die frühe kanadische Frontier war eine undemarkierte Zone des Kontakts zwischen indianischen und weißen Pelzjägern und Pelzhändlern, allesamt Menschen von hoher Mobilität und das schiere Gegenteil von Siedlern, und die Amazonasgrenze war nie etwas anderes als ein Raum der Plünderung und des Raubbaus. Grenzkolonisation ist daher eine Unterkategorie von Grenzexpansion. Damit ist die in den meisten Zivilisationsräumen bekannte extensive Erschließung von Land für die menschliche Nutzung gemeint, das Hinausschieben einer Kultivierungsgrenze in die "Wildnis" hinein zum Zwecke der Landwirtschaft oder der Gewinnung von Bodenschätzen. [...]
 Besonders die Eisenbahn hat die Rolle des Staates in einem Prozess gestärkt, der in der Geschichte meist durch nichtstaatliche Gemeinschaften organisiert wird. Die umfassendste staatlich gelenkte Eisenbahnkolonisierung war die Erschließung des asiatischen Russland seit dem späten 19. Jahrhundert.
Siedlungskolonisation wiederum ist eine Sonderform der Grenzkolonisation, die ihre erste europäische Ausprägung in der Kolonisationsbewegung des griechischen Altertums (und zuvor schon der Phönizier) fand: die Anlage von "Pflanzstädten" jenseits des Meeres in Gegenden, wo meist nur relativ geringe militärische Machtentfaltung möglich und erforderlich war. Nicht nur unter antiken, sondern auch noch unter neuzeitlichen Bedingungen macht die Logistik einen entscheidenden Unterschied zu anderen Formen von Grenzkolonisation aus. Das Meer, aber ebenso vergleichbare Zwischenräume kontinentaler Unwirtlichkeit (Kulja in Xinjiang war unter vorindustriellen Verkehrsbedingungen von Peking aus wesentlich langwieriger zu erreichen als Philadelphia von London aus) verhindern jene Regelmäßigkeit und Frequenz von Beziehungen, die erst soziale Kontinuität erlaubten.
Unter solchen Voraussetzungen war es möglich, dass aus der Kolonisation tatsächlich Kolonien im Sinne nicht nur von Grenzsiedlungen, sondern von distinkten Gemeinwesen hervorgingen, sich also Siedlergesellschaften mit eigenen politischen Strukturen bildeten. Der klassische Fall sind die Anfänge der englischen Besiedlung Nordamerikas. [...]. Aus diesen Umständen entwickelte sich Typ I, der «neuenglische» Typ, von Siedlungskolonisation: Wachstum einer agrarischen Siedlerbevölkerung, die ihren Arbeitskräftebedarf aus der eigenen Familie und durch Rekrutierung von europäischen "Schuldknechten" (indentured servants) deckt und die ökonomisch für sie nutzlose, demographisch schwache einheimische Bevölkerung rücksichtslos vom Land verdrängt. [...]
Ein zweiter Typ von Siedlungskolonisation stellt sich dort ein, wo eine politisch dominante Siedlerminderheit mit Hilfe des kolonialen Staates eine traditionell bereits Ackerbau treibende einheimische Bevölkerungsmehrheit zwar vom besten Land vertreiben kann, aber auf ihre Arbeitsleistung angewiesen bleibt und in ständiger Konkurrenz mit ihr um knappen Boden steht. Anders als beim «neuenglischen» Typ sind die Siedler bei dieser zweiten Form, die man nach ihren wichtigsten modernen Ausprägungen (Algerien, Rhodesien, Kenia, auch Südafrika) die "afrikanische" nennen kann, von der indigenen Bevölkerung wirtschaftlich abhängig. Dies erklärt auch die Instabilität dieses zweiten Typus. Nur die europäische Kolonisation Nordamerikas, Australiens und Neuseelands ist irreversibel geworden, während es in den afrikanischen Siedlungskolonien zu besonders heftigen Dekolonisationskämpfen kam. 
Ein dritter Typ von Siedlungskolonisation löst das Problem der Versorgung mit Arbeitskräften nach der Vertreibung oder Vernichtung der Urbevölkerung durch Zwangsimport von Sklaven und deren Beschäftigung in einer mittel- bis großbetrieblieh organisierten Plantagenökonomie. [...] In der britischen Karibik machten um 1770 Schwarze etwa 90 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, in den nördlichen Kolonien der späteren USA zur gleichen Zeit nur 22 Prozent, in den späteren "Südstaaten" immerhin nicht mehr als 40 Prozent. 
[...] im 19. Jahrhundert wurden Frontiers, zumeist kapitalistisch bewirtschaftet, zu Kornkammern der Welt. [...] Als führende Produzenten und Exporteure von Weizen und nicht durch Industrialisierung fanden sie zu Prosperität. Zwischen 1909 und 1914 produzierte Argentinien 12,6 Prozent der Weltexporte an Weizen, Kanada sogar 14,2 Prozent. [...]
Der klassische Siedlungskolonialismus beruhte auf der Nutzung eines Überflusses an preiswertem Land. Solches Land wurde mit Hilfe aller möglichen Methoden von Kauf über Täuschung bis zu gewaltsamer Vertreibung in den exklusiven Besitz der Siedler gebracht. [...]
Entscheidend ist, dass den bisherigen Nutzern, sehr oft mobilen Stammesgesellschaften, der Zugang verwehrt wurde. [...] Nomaden verloren ihre besten Weidegründe an den Ackerbau [...]
Konflikte zwischen unterschiedlichen Auffassungen von Landbesitz waren eine allgegenwärtige Begleiterscheinung der europäischen Frontierexpansion. [...] Im British Empire und seinen Nachfolgestaaten (etwa den USA) wurde Land zur frei handelbaren und verpfändbaren Ware. [...]
Im 19.Jahrhundert agierte die britische Krone keineswegs immer als Handlangerin von Siedlerinteressen. In Neuseeland etwa, einer der wichtigsten Siedlungskolonien, gaben sich die staatlichen Autoritäten in den ersten Jahrzehnten nach dem Beginn der Kolonisation um 1840 alle Mühe, direkte Landabtretungen von Maori an britische Privatleute zu unterbinden und die Maori vor Landhaien zu schützen. [...] Der koloniale Staat hielt an einer königlichen Prärogative über die Verfügung allen Landes fest, auch des von Einheimischen effektiv genutzten, übte faktisch eine Art Vorkaufsrecht aus und versuchte, durch die Vergabe von Kronlehen eine Anarchie von Privatinteressen zu verhindern. [...]
Der klassische Siedlungskolonialismus besaß eine immanente Tendenz zu semi-autonomer Staatsbildung. Siedler wollen sich selbst regieren und streben nach demokratischen oder zumindest oligarchischen Verhältnissen. Die schroffe Sezession, die sich 1776/83 die Mehrheit der britischen Siedler in Nordamerika erlaubte, und die Unabhängigkeitserklärungen der Burenrepubliken in Südafrika 1852/54 blieben Ausnahmen. Erst 1965 kam es in Südrhodesien (später: Simbabwe) wieder zu einer Siedlerrevolte von staatspolitischer Dimension. Die meisten Siedler benötigten das schützende Dach eines Imperiums [...]
Der klassische Siedlungskolonialismus war eine historische Kraft von ungeheurer transformativer Energie. Kein Bereich bekam dies stärker zu spüren als die Natur. [...]
Neuseeland, eine so ferne Welt, dass man von Europa dorthin ohne die Hoffnung auf baldige Wiederkehr reiste, wurde biologisch besonders radikal revolutioniert. Schon Kapitän Cooks Schiffe, die 1769 gelandet waren, hatten auf ein Land, in dem es außer dem Hund, der Fledermaus und einer kleinen Rattenart keine Säugetiere gab, wie eine Arche Noah gewirkt. [...]
Im 19. Jahrhundert generalisierte sich der "kolumbianische Austausch" von Pflanzen und Tieren von einem transatlantischen zu einem globalen Phänomen, und die Eingriffe siedelnder Landwirtschaft gingen weiter und tiefer als je zuvor.  
(Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S.531 ff.)

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