Montag, 2. April 2018

Natureroberung


Invasionen der Biosphäre
"[...] Der Grenzkampf des spanischen Adels gegen die Mauren und später die Überfälle auf die Urbevölkerung der Kanarischen Inseln formten einen Charaktertypus, der auf die Eroberung Amerikas vorbereitet war. Und wer im 17.Jahrhundert der englischen Krone in Irland gedient hatte, war auch in Übersee gut zu gebrauchen. [...] Frontiers standen auch in ökologischen Beziehungen zueinander. Zunehmend wurde solcher Austausch planvoll betrieben: die Kalifornier importierten den australischen Eukalyptus als wichtigste Pflanze bei der Aufforstung arider Landschaften, und in Australien wurde die kalifornische Monterey-Pinie zum beliebtesten Plantagenbaum. [...]
 Entwaldung
In den langen Geschichten planrnäßiger Entwaldung und des Klagens darüber, die beide in Europa und China in dem halben Jahrtausend vor den Zeitenwende beginnen, kann dem 19. Jahrhundert nicht ohne Mühe ein genau bestimmter Platz zugewiesen werden. Mit Sicherheit war es die bis dahin für die Urwälder der Erde zerstörerischste Epoche, jedoch noch harmlos im Vergleich zum 20.Jahrhundert. [...] 
 In China wird seit zweieinhalbtausend Jahren Wald vernichtet. Doch erst seit dem 18.Jahrhundert ist es gerechtfertigt, von einer generellen Holzkrise zu sprechen. [...]  Nicht-han-chinesische Gemeinschaften in entlegenen Peripherien organisierten sich damals erstmals, um ihre restlichen Wälder gegen Han-Chinesen zu verteidigen, die oft als großbetrieblich operierende Einschlagkommandos auftraten. [...] In China war im 19.Jahrhundert das Stadium einer generellen Entwaldungskrise erreicht. Niemand, weder der Staat noch Privatleute, unternahm dagegen etwas - woran sich bis heute wenig geändert hat. Es gab keine Tradition des obrigkeitlichen Forstschutzes, wie sie sich in Europa seit dem 16. Jahrhundert entwickelt hatte. Die heutige chinesische Umweltkrise hat ihre Wurzeln im 19.Jahrhundert. [...]
 Eine andere Geschichte lässt sich von der indonesischen Insel Java erzählen, einem der kolonial am dauerhaftesten und tiefsten durchdrungenen Gebiete der Welt. In Südostasien begann Entwaldung größeren Ausmaßes bereits lange vor der im 19.Jahrhundert einsetzenden Ära der waldverschlingenden Plantagenlandwirtschaft. Dort war es vielerorts schon um 1400, vor jedem kolonialen Kontakt, zur Anlage von Pfeffergärten für den Export gekommen. [...]
Zwischen 1840 und 1870 verlor Java etwa ein Drittel seiner Teakwälder; an Aufforstung wurde nicht gedacht. Danach begann abermals eine Phase (wie nach 1808) konservierender Reform: Wiederaufbau einer Forstverwaltung, Zurückdrängung privater Nutzung, Regeneration der Bestände durch Baumschulen. 1897 wurde die Teakwirtschaft definitiv unter Staatskontrolle gestellt und forstlicher Pflege unterworfen. Fortan wurde der Holzbedarf ohne die Schäden früherer Zeiten gedeckt. [...]
Die Schattenseite eines waldpflegenden Regiments konnte - nicht nur unter kolonialen Bedingungen - allerdings darin bestehen, dass die Gemeinschaften, die traditionell im und vom Wald lebten, nun zu Objekten staatlicher Intervention wurden: "stumme Abhängige der Wälderverwaltung" Analog zu Forstordnungen und Jagdgesetzen der europäischen frühen Neuzeit schufen die waldpflegerischen Eingriffe eines umweltbewussten Staates neue Abgrenzungen zwischen Legalität und Illegalität. Immer wieder riefen sie den Widerstand bäuerlicher Gemeinschaften hervor. 
So bietet Indien mit seltener Deutlichkeit ein Beispiel für eine Paradoxie des kolonialen Staates: [...] Das Forest Department entwarf und praktizierte ein vorbildliches rationales Waldmanagement, das die chaotische Zerstörung der indischen Wälder in kontrollierte Bahnen lenkte. Es wurde zu einem weltweit und nicht zuletzt in England und Schottland kopierten Modell, auch deshalb, weil es effizient und profitabel wirtschaftete. Zugleich aber erschien es vielen Indern als eine besonders hässliche Fratze des kolonialen Staates: eine fremde Invasionsmacht, die rücksichtslos in das Leben von Millionen eingriff, die alle irgendwie mit dem Wald zu tun hatten, ob sie ihn nun erhalten oder beseitigen wollten. [...]"
Waldvernichtung in den küstennahen Gebieten Brasiliens
Die Ausbreitung des Kaffeeanbaus begann schon nach 1770. In den 1830er Jahren hatte der Kaffeestrauch, aus Ostafrika eingeführt, Zuckerrohr als die wichtigste kommerzielle Nutzpflanze ersetzt. Er behielt diese Stellung bis Anfang der 1960er Jahre. Für Kaffee wurde vor allem Hügelland gerodet, das ungeschützt dann besonders schnell von Erosion betroffen war und bald verwüstet wieder aufgegeben wurde. [...] So wurde bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein die Kaffeekultur zu einer eigenartigen Mischung aus "moderner" kapitalistischer Wirtschaft und primitiver Wanderkultur: [...] Niemand hatte ein Interesse an hochwertigem Wald. Es war einfacher und billiger, Holz für den Schiffbau aus den USA und später Eisenbahnschwellen aus Australien zu importieren.


Der brasilianische Fall repräsentiert eine extrem verschwenderische Waldnutzung, die durch keinerlei Forstaufsicht gebremst wurde. Anders als der koloniale Staat, der bestenfalls eine langfristige Ressourcenpflege im Auge hatte, ließ der unabhängige brasilianische Staat Privatinteressen schrankenlos gewähren. Die Zerstörung des atlantischen Regenwaldes in Brasilien, die in der portugiesischen Kolonialzeit begann, aber erst unter dem post-kolonialen Kaiserreich (1822-89) und der darauf folgenden Republik wirklich verheerende Ausmaße annahm, gehört zu den brutalsten und gründlichsten Prozessen der Waldvernichtung in der Neuzeit, umso schlimmer deshalb, weil nicht der geringste gesamtwirtschaftliche Vorteil daraus gezogen wurde [...]


[In England] hatte unter anderem der unersättliche Bedarf der Royal Navy erst zu Abholzungen und später zu den unvermeidlichen Klagen über eine strategisch riskante Abhängigkeit von ausländischen Holzquellen geführt. Immerhin waren für ein großes Kriegsschiff mindestens 2000 ausgewachsene Eichenstämme bester Qualität erforderlich. Holzmangel zwang die britische Kriegsmarine (unter dem Druck des Unterhauses), schon früh, Eisentechnologie zu nutzen. Ab 1870 machte sich überall der technische Umstand bemerkbar, dass große Schiffe aus Eisen leichter sind als solche aus Holz; dieser Effekt wurde durch den Übergang von Eisen zu Stahl verstärkt. Auch in Frankreich fand bei der Kriegsmarine zwischen 1855 und 1870 ein fast vollständiger Wechsel von Holz zu Stahl statt. Damit verminderte sich die Doppelbelastung durch Schiffbau und Eisenbahnschwellen, der europäische Wälder ausgesetzt waren. [...]

Zum ökologischen Bewusstsein am Anfang der Entwaldung im 19. Jahrhundert sieh: 
Joachim Radkau: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, C.H.Beck, München 2011, S.39-79 [Fontanefan]

Großwildjagd
Was vorher ein Privileg des Adels gewesen war, konnte sich im 19. Jh. auch das reiche Bürgertum leisten.
[...] Neu war der organisierte Angriff auf exotisches Großwild, der größte seit der Verschleppung von Hekatomben wilder Tiere in die blutigen Arenen des alten Roms, [...] 
Die Großwildjagd war in zahlreichen Gesellschaften Asiens ein königliches Privileg gewesen. Nun wurde sie nach europäischem Vorbild auch niederen Rängen der Aristokratie zugänglich gemacht. [...] Ebenso gingen nun auch Dorfbewohner rabiater gegen Großtiere vor. Selbstverständlich hatte zwischen Mensch und Tier niemals eine unschuldige Harmonie geherrscht. Tiger etwa konnten ganze Landstriche terrorisieren. Dörfer wurden verlassen, wenn das Vieh, der kostbarste Besitz der Landbewohner, nicht mehr geschützt werden konnte, wenn das Sammeln von Früchten und Brennholz (eine Beschäftigung junger Mädchen und alter Frauen) unmöglich geworden war oder wenn ein übermäßiger Anteil der Kinder den Raubtieren zum Opfer fiel. [...]
Einige Jäger spezialisierten sich auf die Beschaffung von Großkatzen für europäische und nordamerikanische Zoos und Zirkusse. Der erste "moderne" Zoo in Europa war der 1828 eröffnete in London, [...] viele Tiere überlebten den Transport nicht. Doch die enormen Handelsspannen glichen dies aus. Nashörner konnten in den 1870er Jahren für 160 bis 400 Mark in Ostafrika erworben und für 6000 bis 12 000 Mark in Europa verkauft werden. Bis 1887 hatte die Firma Hagenbeck mehr als 1000 Löwen und 300 bis 400 Tiger umgesetzt. [...]
 Allein in den 1860er Jahren importierte Großbritannien jährlich 550 Tonnen Elfenbein aus allen Teilen des damals noch gar nicht kolonisierten Afrika sowie aus Indien. Der Höhepunkt der afrikanischen Exporte war zwischen 1870 und 1890 erreicht, also gerade während des Wettlaufs der Kolonialmächte um Besitzungen in Afrika. Damals wurden jährlich in Afrika 60-70 000 Elefanten getötet. [...]
Gentlemen jagten, aber das Jagen gehörte auch zum natürlichen Privileg von Siedlern, die fast immer Bauern und Jäger zugleich waren. Schließlich waren in allen Siedlungsgebieten der Welt zumindest am Beginn des 19.Jahrhunderts Raubtiere noch so weit verbreitet, dass die Pioniere gute Gründe hatten, ihr Eigentum zu schützen.

Moby Dick: Walfang
"[...] Der Walfang erreichte den Höhepunkt seiner internationalen Bedeutung etwa zwischen 1820 und 1860. [...] Neuentdeckungen von Walpopulationen lösten "Ölkämpfe" zwischen einzelnen Schiffen und ganzen nationalen Flotten aus, die an den Goldrausch in Kalifornien oder Australien erinnerten. [...] 1848 reiche Walfanggründe entdeckt, vor allem bevölkert von dem heute fast verschwundenen Grönlandwal, die wichtigste Entdeckung überhaupt im Walfang des 19.Jahrhunderts, denn keine Walart liefert durch ihre Barten besseres "Fischbein".  Sie führte zur ersten kommerziellen Präsenz der USA im maritimen Norden, [...] Das Interesse der USA an Alaska wäre ohne diese vorausgehende Entwicklung kaum denkbar. [...] 
Die 1870er Jahre waren eine allgemeine Krisenzeit für den amerikanischen Walfang. Die einstweilige Rettung kam von der Nachfrageseite durch das neue Schönheitsideal der Wespentaille und die dadurch gestiegenen Ansprüche an eine Korsett-Technik, die auf die feste Elastizität von Fischbeinstäbchen angewiesen war. Es lohnte sich jetzt, noch weiter auf dem Meer vorzudringen. [...]
Das einzige nicht-westliche Volk, das unabhängig von westlichen Einflüssen Walen nachstellte, waren die Japaner. [...]  Seit dem späten 17.Jahrhundert verwandte man statt des Harpunierens die Methode, Wale (die vor Japan zumeist zu kleineren und langsamer schwimmenden Arten gehören) von Booten aus in große Netze zu treiben. Die Verarbeitung der Wale, bei der nichts ungenutzt blieb, geschah nicht auf Schiffen (wie bei den US-whalers), sondern an Land. [...]
Ein in ganz Japan publizierter Fall war der des Nakahama Manjirö. Er wurde als schiffbrüchiger Fischerjunge 1841 von einem amerikanischen Walfangschiff gerettet. Der Kapitän nahm ihn zu Hause in seine eigene Familie auf und sorgte für eine gute Schulausbildung. So wurde Nakahama zum ersten japanischen Studenten in Amerika.[...] Aus Heimweh kehrte er aber auf abenteuerlichen Wegen 1851 nach Japan zurück. [...]  Nakahama wurde zu einem Lehrer an der Clanschule in Tosa; einige seiner Schüler sollten später zu den Führern der Meiji-Renovation gehören. 1854 wurde er vom Shögun als Übersetzer bei den Verhandlungen mit Commodore Perry eingesetzt, dem Befehlshaber der amerikanischen Flottille, die Japan "öffnete". Nakahama übersetzte eine Reihe ausländischer Bücher über Navigation, Astronomie und Schiffbau und beriet die Regierung beim Aufbau einer modernen japanischen FIotte. [...]

Landgewinnung
[...] In Frankreich etwa waren bereits um 1860 alle größeren Moorgebiete drainiert und in Weideland verwandelt worden [...]. Vor allem für die Niederlande blieben Flutsicherung und Neulandgewinnung Teil ihrer nationalen Existenzweise. [...] Bereits im 16. und nicht erst im 19.Jahrhundert wurden die entscheidenden technologischen Fortschritte erzielt. Schon zwischen 1610 und 1640 wurde ein Höhepunkt der Seetrockenlegung erreicht, der später selten übertroffen werden würde. Zwischen 1500 und 1815 wurden in den Niederlanden insgesamt 250000 Hektar gewonnen, etwa ein Drittel der kultivierten Fläche. [...]. Insgesamt wurden zwischen 1833 und 1911 350000 Hektar neu in Kultur genommen, 100000 Hektar davon ein Gewinn aus Eindeichungen und Trockenlegungen.[...] Das Hauptprojekt des 19. Jahrhunderts war die Trockenlegung des 18000 Hektar großen Haarlernermeeres in den Jahren 1836 bis 1852. Das Haarlemermeer war ein flacher Binnensee inmitten der wichtigsten Provinz des Landes, Holland. Entstanden war er durch Überschwemmungen während der Stürme vom Herbst 1836. [...] die Furcht, das sich stetig ausdehnende Haarlernermeer würde die Städte Amsterdam und Leiden gefährden, und außerdem ein neuer wirtschaftspolitischer Gesichtspunkt: Arbeitsbeschaffung. [...]

Manche Frontiers haben eine Nachgeschichte im 20. Jahrhundert: die staatskolonialistische Unterwerfung von "Lebensraum" zwischen etwa 1930 und 1945, die sozial- und umwelttechnischen Großprojekte im Zeichen des Sozialismus oder die politisch geförderte Expansion der Hau-Chinesen, die während der letzten Jahrzehnte die Tibeter zu einer Minderheit in ihrem eigenen Land werden ließ. Frontiers waren im 19. Jahrhundert vieles: Räume der Urbarmachung und Produktionssteigerung, Migrationsmagneten, umstrittene Berührungszonen zwischen Imperien, Brennpunkte von Klassenbildung, Sphären von ethnischem Konflikt und Gewalt, Entstehungsorte von Siedlerdemokratie und Rasseregimen, Ansatzpunkte von Phantasmen und Ideologien. Vorübergehend wurden Frontiers zu erstrangigen Herden historischer Dynamik. [...] Was die Folgen solcher Dynamik betrifft, [...] Die Opfer von Frontierexpansionen blieben ausgegrenzt, enteignet und entrechtet. Erst vor wenigen Jahren haben Gerichte in den USA, Australien, Neuseeland oder Kanada begonnen, manche ihre Rechtsansprüche anzuerkennen; Regierungen haben moralische Verantwortung übernommen und sich für Untaten der Vergangenheit entschuldigt.

(Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S.541-564.)

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